Heft 882, November 2022

Die Wissenschaft des Bestsellers

Eine kurze Geschichte von »Sapiens« von Nils Güttler

Eine kurze Geschichte von »Sapiens«

Es ist gerade einmal zehn Jahre her, dass sich ein junger Historiker der Hebrew University Jerusalem auf die Suche nach einem englischsprachigen Verlag machte. Es ging um ein Buchmanuskript, dessen Thema nicht umfassender hätte sein können: eine Geschichte der Menschheit von den allerersten Anfängen in den Steppen Afrikas bis in die Gegenwart. Das Buch trug den Titel From Animals into Gods. Es war das Produkt einer Einführungsveranstaltung zur »Geschichte der Welt«, die der Historiker seit dem Jahr 2002 regelmäßig anbot.

Die hebräische Version von From Animals into Gods war bereits auf dem Markt und hatte sich gut verkauft. Die englische Übersetzung, die der Autor selbst erstellt hatte – er wurde an der Universität Oxford in mittelalterlicher Geschichte promoviert –, erwies sich jedoch als Flop. Kein Verlag wollte das Buch im Jahr 2012 ins Programm nehmen. Frustriert über die Flut an Absagen wandte sich der Historiker an CreateSpace.com, einen kalifornischen Selbstverlag aus der Amazon-Gruppe, der Bücher als Print on Demand publizierte. Für Nachfragen fanden die letztlich rund zweitausend Käufer der Ausgabe auf der Titelseite die E-Mail-Adresse des Historikers: yuvalnharari@gmail.com.

Nur ein Jahr nach der gescheiterten Verlagssuche, im Jahr 2013, veröffentlichte die Deutsche Verlags-Anstalt eine Übersetzung mit dem Titel Eine kurze Geschichte der Menschheit. Wiederum ein Jahr später erschien eine neue englische Übersetzung unter dem Titel Sapiens. Auf die Gründe, weshalb dem Buch diesmal ein überwältigender Erfolg beschieden war, wird noch zurückzukommen sein. Fakt ist, dass allein in den ersten fünf Jahren schätzungsweise rund 10 Millionen Exemplare verkauft wurden, das Buch ist mittlerweile in mehr als fünfzig Sprachen lieferbar. Bestseller waren auch der Nachfolger Homo Deus – Eine Geschichte von Morgen sowie die diversen Weiterverwertungen des Originals etwa als Graphic Novel. Sapiens ist zweifellos das erfolgreichste historische Buch der Gegenwart.

Trotz dieser außergewöhnlichen Resonanz haben sich weder die Geschichtswissenschaften noch die Kulturanthropologie bislang ernsthaft mit Yuval Harari auseinandergesetzt. Schon die Erwähnung seines Namens ruft bei einem Gespräch in der Konferenzpause oder Kaffeeküche bestenfalls Naserümpfen hervor. Schnell ist man sich einig, dass Sapiens nicht mehr sei als publizistisches Blendwerk: argumentativ flach und grob vereinfachend, im Stil sensationslüstern und effekthascherisch, vom Ergebnis her uninteressant.

Nach außen behandelt die professionelle Community Sapiens so, wie man gewöhnlich mit pseudowissenschaftlichen Werken und Theorien umgeht: mit Nichtbeachtung. Auf H-Soz-Kult, der wichtigsten digitalen Plattform für Historiker im deutschsprachigen Raum, wirft die Suchmaschine für den Namen Yuval Harari gerade einmal rund ein Dutzend Treffer aus (mehrere davon beziehen sich auf seine ins Deutsche übersetzte Dissertation Fürsten im Fadenkreuz). Sapiens, so die implizite Botschaft, ist das Produkt eines globalen Medienhypes, das wenig mit dem zu tun hat, was Historikerinnen und Historiker eigentlich tun.

Fragehorizonte

»Vielleicht ist die Buchkritik einfach das falsche Spielfeld für eine bestimmte Art von Buch.« Mit diesen Worten beendete Timo Luks seine Rezension zu David Graebers und David Wengrows Anfänge, einer kürzlich erschienen Gegenerzählung zur Menschheitsgeschichte à la Harari. Man kann Luks nur zustimmen. Denn es stellt sich die Frage, ob es wirklich produktiv ist, an Büchern wie Sapiens, Graebers und Wengrows Anfänge – die »Big History«-Bücher von David Christian gehören in dieselbe Kategorie – das endlose Demarkationsspiel durchzuexerzieren, mit dem die Grenze der Wissenschaftlichkeit immer wieder aufs Neue ausgelotet wird.

Sind solche Bücher noch seriöse Wissenschaft? Stimmt ihre Quellenbasis? Berufen sich die Autoren – es sind fast ausschließlich Männer – auf den neuesten Forschungsstand? Das sind allesamt berechtigte Fragen, und es ist wichtig, sie zu stellen. Jedoch zielen sie am Kern des Phänomens selbst vorbei. Denn Bücher wie Sapiens sind Grenzphänomene. Einerseits beziehen sie ihre Legitimation aus dem fachwissenschaftlichen Hintergrund ihrer Autoren; andererseits ignorieren sie bewusst fachwissenschaftliche Konventionen – im genialischen Gestus des wilden Denkens des Bestsellerautors. Anstatt sich also an den auf dem Buchmarkt befindlichen Menschheitsgeschichten im Modus der Buchkritik abzuarbeiten, könnte man auch fragen: Was ist das überhaupt für eine »bestimmte Art von Buch«?

Die Wissenschaftsgeschichte kennt Präzendenzfälle. So haben Alexander W. Daum oder James A. Secord auf die Ursprünge des Genres der populärwissenschaftlichen Menschheitsgeschichten im Dunstkreis von Wissenschaftsstars wie Alexander von Humboldt und Charles Darwin hingewiesen. Diese Bücher leisteten schon im 19. Jahrhundert mehr, als Wissenschaft zu popularisieren und für eine breite Öffentlichkeit aufzuarbeiten. In einer sich rasant wandelnden Medienlandschaft fungierten die populären Bestseller vielmehr als Plattformen für die Interaktion von Universitäts- und Populärwissenschaft, mit deren Hilfe sich bis dahin ungekannte öffentliche Diskurs- und Echoräume für die Wissenschaften eröffneten.

Als aufschlussreich für die Einordnung von Sapiens erweisen sich außerdem Donna Haraways und Erika Milams Einsichten in die kulturanthropologischen Bestseller des 20. Jahrhunderts: Auch wenn diese Bücher von den Ursprüngen der Menschheit handelten, standen sie mit beiden Beinen in ihrer Gegenwart. Man muss sie deshalb als Reaktion auf politische, ökonomische und gesellschaftliche Strukturveränderungen und Machtverhältnisse lesen. So sind etwa die Diskurse über »die Menschheit« und die »menschliche Natur«, wie sie in den Vereinigten Staaten während des Kalten Kriegs geführt wurden, ohne die Bedrohung durch den Atomkrieg, die Entstehung des civil rights movement oder die feministische Bewegung gar nicht zu erklären.

Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass sowohl die Wissenschaftsgeschichte als auch die Wissenschaftssoziologie Sapiens bislang ebenfalls ignoriert haben. Denn bei Harari sind die Wissenschaften zentrale Antriebskräfte der Menschheitsgeschichte. Das selektive Bild von Wissenschaft, mit dem er dabei operiert – und das der Erfolg von Sapiens in breite Teile der Öffentlichkeit, Politik und Wirtschaft transportiert hat –, ist einen genaueren Blick wert. Das Buch liefert bei näherem Hinsehen eine historische Genealogie eines bestimmten Modus von Wissenschaft: unternehmerischer, marktkonformer Forschung. Diese Genealogie verzerrt nicht nur das Bild der Vergangenheit, sie hat Konsequenzen für die Wissensproduktion in der Gegenwart – und zwar nicht zuletzt bei Harari selbst. Denn zur unternehmerischen Wissenschaft gehört auch eine Privilegierung von angewandt-naturwissenschaftlicher gegenüber geisteswissenschaftlicher Forschung. Im Unterschied zu kulturhistorischen Büchern ist Sapiens über weite Strecken ein Produkt natur- und technikwissenschaftlicher Wissensproduktion.

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