Heft 896, Januar 2024

Risse im Raum

von Nils Güttler

Durch die fensterlosen Gänge des Terminals. Die meisten Läden sind geschlossen, nur die Autovermietungen haben geöffnet. Im Hintergrund läuft Fahrstuhlmusik, gelegentlich von Ansagen unterbrochen. Bitte lassen Sie kein Gepäck unbeobachtet stehen. Ab und zu begegnet einem eine einsame Gestalt mit Atemschutzmaske, doch die Blicke treffen sich nur kurz, während man mit ausreichend Sicherheitsabstand aneinander vorbeihuscht. Mit dem Aufzug geht es in den 14. Stock auf ein mäßig gefülltes Parkdeck. Niemand zu sehen. Wieder zurück im Untergeschoss führt eine versteckte Tür ins Freie. Hier ist die Welt zwar ähnlich monoton wie im Inneren, aber immerhin gibt es zwischen den menschenleeren Verbindungsstraßen auch mal ein Blumenbeet, und in der Ferne ist ein Waldstück zu sehen.

Immer wieder kommen mir Bilder vor Augen. Sie stammen aus Terminals und der Umgebung anderer Flughäfen, die Tausende Kilometer weit entfernt sind, aber nahezu identisch aussehen: Yaoundé (Kamerun), Porto Alegre (Brasilien), Verna (Rumänien), JFK (New York) und Kansai (Japan). Dazu gesellen sich Stimmen. Sie berichten von alten Kolonialplantagen, auf denen das Kautschuk für Flugzeugreifen hergestellt wurde; von der Favela Vila Nazaré, die auf den Druck von Fraport einer neuen Landebahn weichen musste; von Erdölraffinerien auf den Antillen, auf denen lange Zeit das in Frankfurt verwendete Kerosin hergestellt wurde. Die Karibikinseln sind heute ein Brennpunkt der globalen Klimakrise. Ein Satz hallt in meinem Kopf nach. Es war ein Auftrag: »Ich muss mich mit den anderen verbinden, denn die Räume, die wir durchqueren, sind nicht aus sich selbst heraus zu verstehen. Wir können uns alleine in ihnen nicht zurechtfinden. Zerstreut, aber parallel, versuchen wir den Weg zu finden.«

Es ist Juli 2021. Auf dem Frankfurter Flughafen kann man an The Passengers teilnehmen, einem Video-Walk, den das Künstlerkollektiv LIGNA gestaltet hat. Bei der Tour folgt man einer festgelegten Route, die auf dem Smartphone-Display eingespielt wird und mit Parallelrundgängen durch andere Flughäfen überlagert ist. Es handelt sich um ein Experiment im »Synchronisieren«. Performativ, in der Mischung aus Gehen, Sehen und Hören, sollen die Teilnehmenden in ein »Netz von Ähnlichkeiten« und »Verbindungen« einsinken, in dem die »zerstreuten Jetzt-Zeiten« dieser Orte als gleichzeitig erfahrbar werden sollen. In die globale Gegenwart mischt sich aber auch jede Menge Geschichte, etwa die deutsche koloniale Umweltgeschichte, die Firmengeschichte von Fraport und nicht zuletzt eine der wichtigsten Episoden aus der jüngeren Geschichte des Frankfurter Flughafens: der Widerstand gegen den Bau der Startbahn West in den frühen 1980er Jahren. »Legen Sie meinen Blick und Ihren übereinander.«

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