Die Zukunft unseres Erinnerns
Ein kulturpolitisches Gespräch von Carola Lentz, Teresa Koloma Beck, Omri BoehmEin kulturpolitisches Gespräch
Carola Lentz: Wir drei haben unterschiedliche disziplinäre Hintergründe, und wir haben in verschiedenen Gesellschaften gelebt und geforscht. Ich möchte diese Erfahrungen gerne nutzen, um die derzeit besonders kontrovers geführten deutschen Debatten über Erinnerungskultur einmal »von außen« zu betrachten, im internationalen Vergleich. Ich schlage vor, dass wir uns dabei auf das Erinnern konzentrieren, das im öffentlichen Raum stattfindet und von staatlichen Akteuren organisiert oder mit staatlichen Mitteln subventioniert wird. Dieses Erinnern ist zunächst einmal eine Tätigkeit, oder genauer: ein Bündel von unterschiedlichen Praktiken, die durch unterschiedliche Härtegrade und Organisiertheit geprägt sind. Das Spektrum reicht dabei von in Granit gemeißelten Denkmälern, von etablierten Museen und Archiven über gesetzlich verankerte jährliche Feiertage, Gedenkrituale und kanonisierte Schulbuchtexte bis hin zu flüchtigeren Formen des Erinnerns in Podcasts, Fernsehserien, Theaterstücken oder gelegentlichen Zeitungsbeiträgen.
Diese unterschiedlichen Medien können unterschiedliche Inhalte transportieren und Vielstimmigkeit, aber auch Dissonanzen erzeugen, und sie werden von einer Pluralität von Akteuren betrieben, die teilweise miteinander kooperieren, teilweise aber auch konkurrieren, weil die Ressourcen begrenzt sind. Erinnerung ist zudem notwendig selektiv, Vergessen und Verschweigen gehören immer dazu. Und sie vollzieht sich in machtstrukturierten Feldern und verändert sich mit neuen politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen.
Wir haben es hier also mit einer großen Vielfalt an Akteuren, Praktiken und Kontexten zu tun. Wie aber sieht es mit der Vielfalt der Erinnerungsgemeinschaften aus, in deren Namen all das unternommen wird? Wer ist das »Wir« in »unser Erinnern«? Welche Rolle spielen beim nationalstaatlich organisierten Erinnern einerseits kleinere, subnationale Erinnerungskollektive wie Migranten- und Exil-Communitys oder auch regionale oder lokale Erinnerungen? Und welche Bedeutung hat andererseits die Verflechtung des Nationalstaats in transnationale Kontexte – also etwa in die europäische Gemeinschaft oder aber auch in den historischen Kontext von Imperialismus und Kolonialismus? Inwiefern gehören Mitglieder der ehemals kolonisierten Gesellschaften in die nationalen Erinnerungsgemeinschaften hinein und sollten an der Gestaltung der entsprechenden Narrative teilhaben?
Teresa Koloma Beck: Mit Blick auf den deutschen Kontext heute scheint mir relevant, dass ein gewisser Bruch zu beobachten ist zwischen dem, was als Erinnerungsgemeinschaft erzählt wird, und der tatsächlichen demografischen Verfasstheit der Gesellschaft. Die Erinnerungskultur, wie es im Kontext der Bundesrepublik genannt wird, ist eine große und hart erkämpfte Errungenschaft. Was heute als staatlich und öffentlich geteiltes Selbstverständnis gilt, begann als Aktivismus zivilgesellschaftlicher Organisationen, beispielsweise in der Geschichtswerkstättenbewegung in den 1980er Jahren. Die haben unermüdlich darauf gedrängt, die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus wachzuhalten, darauf bestanden, dass es Verantwortung zu übernehmen gilt, weil man schuldig geworden war. Das war eine große Errungenschaft, und die sollte nicht aufgegeben werden.
Nun hat aber mittlerweile jede fünfte Person in Deutschland eine Migrationsgeschichte, unter den Jüngeren sogar jede dritte. Das heißt: Es gibt immer mehr Menschen, die hier leben und Staatsbürger sind, die die deutsche Tätererfahrung, um die herum die Erinnerungskultur gebaut ist, nicht teilen. In den Gedenkstätten weiß man längst, dass es wichtig ist, auch Anknüpfungspunkte für Menschen herzustellen, die mit anderen Geschichten kommen. Doch in der breiteren öffentlichen Debatte dominiert noch immer ein um die Tätererfahrung herum organisiertes Narrativ.
Die Herausforderung besteht darin, das so weiterzuentwickeln, dass es der Pluralität der Gesellschaft gerecht wird. Denn sonst besteht die Gefahr, dass das institutionalisierte nationale Erinnern an die Gewaltgeschichte des NS ethnonationalistischen Vorstellungen von der Gesellschaft der Bundesrepublik Vorschub leistet. Aktuell ist ja öfter zu hören, dass »wir in Deutschland« aufgrund »unserer« historischen Verantwortung zu diesen oder jenen Fragen gar keine andere Position einnehmen können. Dafür mag es gute Gründe geben. Doch wenn so formuliert wird, sagt man eben auch, dass alle die, die familienbiografisch nicht Teil der deutschen Tätergeschichte sind, auch nicht zu diesem »Wir« gehören.
Omri Boehm: Ich denke, der Begriff der »deutschen Schuld« muss in mehrfacher Hinsicht erweitert werden, auch über die Frage hinaus, wer welchen Hintergrund hat. Selbst Menschen aus so genannten deutschstämmigen Familien entfernen sich mit den Jahren immer weiter vom Gefühl der Schuld. Ein Schuldgefühl oder die Erwartung eines Gefühls kann sich zwar auch auf das beziehen, was die eigenen Eltern, die eigenen Großeltern getan haben – irgendwann aber nicht mehr, vor allem, wenn man die Täter nicht mehr kennt und nicht mehr mit ihnen in Beziehung steht. Deshalb ist die Herausforderung, um die es geht, größer als der Gegensatz »ethnische Deutsche« versus »die anderen«. Der Schlüssel liegt meines Erachtens darin, zwischen Schuld und Verantwortung zu unterscheiden. Die Deutschen tragen Verantwortung für ihre Vergangenheit, ohne notwendigerweise schuldig oder persönlich betroffen zu sein. Die Grenze dieses Gedankens – eine fast absurde Grenze – ist die Vorstellung, dass auch jemand wie ich, ein deutscher Staatsbürger, die Verantwortung aller deutschen Staatsbürger tragen könnte, obwohl meine Großeltern dem Holocaust nur knapp entkommen sind und ihre Eltern ihn nicht überlebt haben.
Ich denke also, dass wir das Konzept der Verantwortung im Gegensatz zur Schuld annehmen müssen, wenn eine ernsthafte Beziehung zur Erinnerung überleben soll. Und wenn wir das tun, ändern sich die Subjekte der Verantwortung sofort. Das bedeutet nicht, dass bestimmte deutsche Perspektiven völlig verloren gehen oder der deutsche Staat die partikularen Perspektiven jedes Menschen, der nach Deutschland kommt, auf genau dieselbe Weise unterstützen muss. Das glaube ich nicht. Aber weil Deutsche nun auch deutsche Juden, deutsche Muslime und so weiter sein können, wird sich die Art und Weise, wie sich die Deutschen an ihre Vergangenheit erinnern, ändern müssen. Dieser Perspektivwechsel ist der beste Weg – eigentlich der einzige Weg –, um Verantwortung für die deutsche Vergangenheit zu übernehmen. Das war schon im Historikerstreit die logische Konsequenz aus Habermas’ Beharren auf dem Verfassungspatriotismus und der Singularität des Holocaust. Aber das wird oft übersehen, vielleicht auch von Habermas selbst. Allzu oft wird die Rede von der deutschen Schuld zu einem Mittel, um diese Transformation zu verhindern und stattdessen das deutsche Nationalbewusstsein zu bekräftigen und die Schuld auf Kosten der Übernahme von Verantwortung zu feiern.
Was die Erinnerungspraxis in Israel betrifft, so sehe ich im Wesentlichen drei verschiedene Kreise, in denen sich die Erinnerung bewegt. Der erste ist der Holocaust. Der zweite: Während wir hier heute miteinander sprechen, feiert man in Israel Jom haZikaron, den Tag des Gedenkens an die gefallenen israelischen Soldaten, die ihr Leben im Kampf um die Gründung des Staates Israel verloren haben oder die später im Dienst der israelischen Streitkräfte getötet wurden. Dieser Nationalfeiertag ist für die Israelis nicht weniger wichtig als das Gedenken an den Holocaust, weil so viele Menschen in Israel dazu eine persönliche Beziehung haben und weil der Fokus auf jüdisches Handeln und Heldentum anstelle der Opferrolle von großer Bedeutung ist. Der dritte Kreis der Erinnerung ist der des geförderten Vergessens der Nakba, des arabischen Begriffs für »Katastrophe«, der an die Massenvertreibung und Enteignung der Palästinenser während des arabisch-israelischen Krieges 1948 erinnert. Die Bedeutung der Zerstörung dieser Erinnerung in einem Staat, der so stark auf Erinnerung aufgebaut ist, kann gar nicht überschätzt werden.
Das vielleicht Interessanteste am Holocaust-Gedenken in Israel ist, wie spät es etabliert wurde. Die Erinnerung an den Holocaust wurde lange Zeit nicht als etwas angesehen, das die Israelis eint. Es war eine Erinnerung, die genutzt wurde, um Menschen voneinander zu unterscheiden, nicht sie zusammenzubringen. Zum einen war es eine private Erinnerung derjenigen, die aus Europa kamen, während die große Bevölkerungsgruppe der sephardischen Juden sie nicht teilte. Und zum anderen war es eine Erinnerung, für die man sich schämen musste, weil sie nicht in die Heldengeschichten der Gesellschaft passte. Wie bereits erwähnt, wollten sich die Israelis nicht als Opfer sehen – Jom haZikaron ist fast eine Alternative, die die Holocaust-Gedenkstätten ausgleicht. Heute ist es üblich, den Zionismus und den Staat Israel mit dem Holocaust in Verbindung zu bringen. Die frühen Zionisten lehnten diese Assoziation und folglich auch Praktiken zum Gedenken an den Holocaust aber ab. Ben-Gurion sagte irgendwo, dass Pogrome und der Holocaust kein Teil der jüdischen Geschichte seien, weil es vor der Staatsgründung keine jüdische Nation mit einer Geschichte gegeben habe.
Das änderte sich mit dem Eichmann-Prozess. Hier stellte Ben-Gurion das genannte Prinzip auf den Kopf. Es ist gut dokumentiert, dass einer der Gründe für die Durchführung der öffentlichen Verhandlung in Beit Ha’am – dem »Haus des Volkes«, einem umgebauten kommunalen Theater, das Hunderte von Zuschauern aufnehmen konnte – war, dafür zu sorgen, dass sich jeder für den Holocaust interessiert. Seit Mitte der 1960er Jahre müssen wir alle, jeder in Israel, so tun, als seien wir Auschwitz entkommen. Auch meine iranisch-jüdische Mutter tut das, aber ihr Vater tat es noch nicht. Natürlich, wenn wir sagen »wir alle«, dann schließt das diejenigen aus, die nicht dazugehören sollten, also die Palästinenser, die nicht an den offiziellen Gedenkfeiern zum Holocaust teilnehmen durften und die bis zu einem gewissen Grad auch als Erben des Nazismus und des Antisemitismus hingestellt wurden. Aus diesem Grund, so habe ich in Haifa Republic argumentiert, tun die palästinensischen Vertreter, die sich in die Holocaust-Gedenkfeierlichkeiten einbringen, etwas, das nicht nur auf menschlicher Ebene nett ist, sondern radikal und transformativ.
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