Digitale Souveränität
Macrons Digitalisierungspolitik als Blaupause für die EU? von Felix HeidenreichMacrons Digitalisierungspolitik als Blaupause für die EU?
In seiner Sorbonne-Rede vom 26. September 2017 stellte Emmanuel Macron einen Begriff ins Zentrum seiner Überlegungen, der sich wie eine Art Leitmotiv durch seine Politik zieht: die Verteidigung, ja Erlangung europäischer Souveränität. Darin konnte man zum einen den Versuch erkennen, einen vom Front National (heute Rassemblement National) okkupierten Begriff wieder für die demokratische Mitte zu reklamieren. Zum anderen sollte damit schlicht das demokratische Versprechen politischer Gestaltung gegen den postdemokratischen Fatalismus verteidigt werden.
Neben der Migrations- und Sicherheitspolitik stand dabei die Frage der Digitalisierung im Zentrum. Europa laufe Gefahr, so Macrons Diagnose, zum Spielball fremder Mächte und vor allem amerikanischer Konzerne zu werden. Die digitale Welt gleiche einem Kontinent, den es unter politische Kontrolle zu bringen gelte: »Dieser Kontinent des Digitalen hat heute keine Normen, oder um es genauer zu sagen, er hat ein einziges Gesetz: das Gesetz des Stärkeren. Europa ist hier aufgefordert, den Regelungsrahmen festzusetzen, um nicht faktisch ein zu uns importiertes Gesetz des Stärkeren erleiden zu müssen.« Damit war zugleich suggeriert, dass Frankreich eine Führungsrolle in der Neuordnung der digitalen Sphäre beansprucht. Wer, wenn nicht wir, so schien Macron zu sagen, könnte hier für Ordnung sorgen?
In der Tat legte der französische Präsident seit seinem Amtsantritt im Bereich der Digitalisierungspolitik ein geradezu atemberaubendes Tempo vor. Kein anderer europäischer Staatschef ist auf diesem Politikfeld dermaßen ehrgeizig. Es steht die Frage im Raum, ob Macrons Visionen und Ansätze zur Blaupause der Europäischen Union werden – vorangetrieben von einer Kommissionschefin, an deren Wahl Macron wesentlichen Anteil hatte.
Dabei geht es um nicht weniger als jene technischen Infrastrukturen, die das Denken, das Diskutieren und Kritisieren in Europa wesentlich mitprägen werden. Europa als geistiger Kosmos wird vom Buch auf digitale Leitmedien umgestellt und gibt sich neue rechtliche und ökonomische Rahmenbedingungen.
Drei Teilaspekte lassen sich hierbei unterscheiden. Es geht erstens um eine Forschungs- und Industriepolitik, die die europäische Wirtschaft davor schützen soll, im Bereich der Digitalisierung und der Künstlichen Intelligenz unrettbar ins Hintertreffen gegenüber der amerikanischen und chinesischen Konkurrenz zu geraten. Zweitens geht es um den vor allem über Steuerpolitik erfolgenden Versuch, so etwas wie ökonomische Souveränität über jene Firmen zu erlangen, die zwar innerhalb der EU Gewinne generieren, aber sowohl die ordnungs- als auch die steuerpolitische Souveränität (nicht nur) Frankreichs unterlaufen. Und drittens zielt Macrons Politik darauf ab, die durch ökonomische Interessen verzerrte und der externen Beeinflussung schutzlos ausgesetzte digitale Öffentlichkeit demokratisch einzuhegen. Hierzu soll unter anderem die »Loi Avia« beitragen, eine Art Äquivalent zum deutschen »Netzwerkdurchsetzungsgesetz«.
Not even seeing the back lights
Eine frustrierende, aber realistische Einsicht lautet, dass die digitale Wirtschaftswelt vollkommen von amerikanischen Unternehmen dominiert wird. Dabei geht es nicht nur um die in dem Akronym GAFA verdichteten Konzerne Google, Apple, Facebook und Amazon, sondern auch um Microsoft und die großen Server-Anbieter. Selbst branchenstarke kontinentaleuropäische Firmen wie SAP spielen nicht auf Augenhöhe mit den großen Firmen aus dem Silicon Valley (oder im Fall von Microsoft: aus Seattle). Eine immer wieder bemühte Metapher lautet: »We are not even seeing the back lights anymore.« Zuletzt verwendete der Bitkom-Chef Bernhard Rohleder dieses Denkbild und diagnostizierte, dass die bisherige staatliche Förderung in Deutschland keinerlei nennenswerte Wirkung gezeigt habe. Bisweilen wird dieses Bild auch umgekehrt; dann besagt es, dass die amerikanischen Firmen die europäische Konkurrenz nicht mehr im Rückspiegel sehen, sich gar nicht mehr die Mühe machen, sie auch nur zu beobachten.
Macron hatte bereits im Wahlkampf angekündigt, den Stier bei den Hörnern zu packen und ein noch nie dagewesenes industriepolitisches Programm auflegen zu lassen. Damit wird die traditionell starke Rolle des Staates in der Geschichte französischer Innovationen fortgeschrieben. Pierre Rosanvallon hat sehr ausführlich gezeigt, dass es in Frankreich immer wieder top-down getriebene Interventionen waren, die bisweilen schlagartig die Modernisierung und Industrialisierung vorangetrieben haben.