Heft 856, September 2020

Ein Gespräch über Bäume

von Patrick Eiden-Offe

»Was sind das für Zeiten, wo || Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist || Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!« Was sind das für Zeiten, in denen ein Gespräch über Philosophie – ein langes, fortgesetztes Gespräch mit einem von jenen »alten Büchern«, an die schon Brecht sich so gern gehalten hat – einem selbst schon vielleicht nicht gerade wie ein Verbrechen, so doch wie eine Flucht vorkommt … ein Gespräch mit der Philosophie als Gespräch über Bäume?

Ohne unsere »finsteren Zeiten« mit jenen gleichsetzen zu wollen, in denen Brecht sein großes Gedicht An die Nachgeborenen geschrieben hat – es ist in den 1930er Jahren im dänischen Exil entstanden und wurde kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Paris in der Neuen Weltbühne publiziert –, so lässt sich doch nicht abweisen, dass mich selbst bisweilen ein ungutes Gefühl, das Gefühl eines unlauteren (und vielleicht dafür umso lustvolleren) Eskapismus beschlichen hat, als ich mich im Winter 2018/19 jeden Morgen hingesetzt und Stück für Stück, Satz für Satz Hegels Wissenschaft der Logik – nun, nein, nicht: durchgearbeitet, sondern durchgelesen habe. Tag für Tag eine Stunde am Morgen, und bis zu meinem Geburtstag im Frühling wollte ich durch sein mit den achthundert Seiten: Das waren die selbstauferlegten Spielregeln, das klingt machbar, und das war es auch.

Aber begrenzbar auf die eine Stunde am Tag war die Auseinandersetzung mit Hegel natürlich nicht; das Gelesene arbeitet fort, verknüpft sich, bildet Knoten und löst sie, vergisst sich und taucht an unerwarteter Stelle wieder auf, kurz: Es hält einen dann doch den ganzen Tag (und darüber hinaus) auf Trab, und die Anstrengung (und Lust), die damit verbunden ist, bedeutet nicht auch sie ein »Schweigen« über die drängenden Probleme der Welt (die weltweiten Kämpfe der Klassen, der Aufstieg eines neuen Autoritarismus, die Zerstörung des Planeten …), mit denen ich mich auch in meiner Arbeit als Literatur- und Kulturwissenschaftler stattdessen hätte auseinandersetzen können, mit denen ich mich durchaus immer wieder auch auseinandergesetzt habe – und mit denen ich mich wieder auseinandersetzen werde? Immerhin gibt es in den letzten Jahren wieder eine Bewegung hin zu einer stärkeren Politisierung jener Wissenschaften, und ich habe mich immer auch als Teil dieser Bewegung gesehen.

Sicher, es gibt noch entlegenere Gegenstände, noch eskapistischere Beschäftigungen. Immerhin ist Hegel klarerweise auch ein Philosoph des Politischen, und so wurde und wird er immer auch rezipiert. In der Gegenwart gibt es – unter Fachphilosophen, zu denen ich nicht gehöre, aber auch darüber hinaus – ein starkes Interesse an Hegels Rechtsphilosophie, in der viele ein probates Mittel zur Überwindung der Krise der liberalen Demokratien sehen. Das ganze 20. Jahrhundert hindurch wurde Hegel als Ratgeber in Krisensituationen herangezogen: Lenin las 1914/15, als der Ausbruch des Ersten Weltkriegs alle Beteuerungen einer internationalen Vereinigung der Arbeiterklasse grausam dementiert zu haben schien, im Züricher Exil Hegels Logik, und ohne diese Lektüre hätte er den Weltkrieg womöglich tatsächlich als End- und nicht als Durchgangsstation zur Revolution verstanden.

In den dreißiger Jahren, angesichts des historischen Faschismus, haben so unterschiedliche marxistische Denker wie Georg Lukács und Herbert Marcuse Hegel nicht nur gegen den Vorwurf in Schutz genommen, Vordenker des Faschismus und /oder des Totalitarismus zu sein – Vorwürfe, die bezeichnenderweise sowohl von den Stalinisten wie von Liberalen erhoben wurden; sie haben auch einen selbst schon zutiefst revolutionären Hegel präpariert, dessen Beschäftigung mit den Problemen der politischen Ökonomie des aufstrebenden Kapitalismus dann von Marx tatsächlich nur noch vom Kopf auf die Füße gestellt werden musste.

Und noch in den 1960er Jahren, vor und während der Revolte von Achtundsechzig, haben Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas ihre auf Aktion gestimmten Studierenden Hegel büffeln lassen – gerade auch die Logik. Diese haben sich ihren eigenen Reim darauf gemacht und gleich eine ganze Neue Marx-Lektüre aus dem Boden gestampft. Der ausgewilderte und dann früh verstorbene Adorno-Schüler Hans-Jürgen Krahl kann mit seinen Bemerkungen zum Verhältnis von Kapital und Hegelscher Wesenslogik hier als Diskusbegründer gelten. Der »Hegel-Marxismus« wurde dann vielfach zum Synonym einer hochgradig ausdifferenzierten und offensichtlich überstudierten, zugleich aber auch verstockt-doktrinären linken Theorieszene der siebziger und achtziger Jahre, von deren Spätformen noch meine eigene theoretische Sozialisation geprägt wurde.

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