Ein verwegener Zug
von Benjamín LabatutAlphaGo
1997 war der Computer zum ersten Mal dem Menschen im Schach überlegen. In diesem Jahr wurde Garri Kasparow, die Nummer eins der Welt, von IBM herausgefordert, gegen Deep Blue anzutreten, einen schachspielenden Supercomputer. Der russische Großmeister nahm die Herausforderung, ohne zu zögern, an, zumal er bereits eine frühere Version des Programms geschlagen hatte, in Philadelphia, erst dreizehn Monate zuvor, und er war sich absolut sicher, dass Computer noch Jahrzehnte entfernt waren von allem, was dem Schachspiel auf menschlichem Niveau ähnelte. Die Revanche sollte im Mai in New York stattfinden, großflächig beworben in den Straßen der Stadt, und weltweit wartete ein riesiges Publikum gespannt auf den Wettkampf zwischen Mensch und Maschine. Kasparow hatte in seiner fulminanten Karriere kein einziges Match verloren. Mehr als zwei Jahrzehnte hatte er unangefochten geherrscht, für viele war er der beste Spieler aller Zeiten. Er gewann nicht einfach nur, er vernichtete seine Gegner mit einem extravaganten, kreativen, äußerst aggressiven Stil, und so war es ein gewaltiger Schock, als der IBM-Computer ihm nicht nur seine allererste Niederlage beibrachte, sondern auch eine, die Kasparow ohne einen Hauch von Würde einsteckte. Nach dem Turnier erlitt Kasparow einen Nervenzusammenbruch, und ein Jahr lang war er unfähig zu spielen. Was ihn jedoch um den Verstand brachte und in die tiefste Krise als Erwachsener stürzte, war nicht die Niederlage an sich, es waren vielmehr zwei bestimmte Züge in der zweiten Partie gegen Deep Blue. Kasparow hatte die erste Partie gewonnen, doch jetzt, in der zweiten, vor Hunderten von Kameras, die stur auf ihn draufhielten, geriet er in die Defensive, und der Computer dominierte eindeutig das Spiel, er agierte sehr viel besser, als irgendwer erwartet hatte. Also beschloss der Großmeister, eine Falle zu stellen, in die, wie er wusste, die meisten, wenn nicht alle Schachprogramme gehen würden, denn sie bot eine offensichtlich vorteilhafte Stellung, überaus verlockend für ein System, das auf klarem, logischem Denken basierte und dem Computer, dachte er, zugrunde lag. Doch Deep Blue biss nicht an. Stattdessen spielte die Maschine eine brillante Partie, und Kasparow fragte sich, ob er es wirklich mit einer Künstlichen Intelligenz zu tun hatte, womöglich spielte er ja gegen einen unsichtbaren menschlichen Gegner, verborgen in den Kulissen wie der Zauberer von Oz und ebenfalls ein Großmeister, und der konnte die Falle, die er so sorgsam ausgelegt hatte, erkennen, konnte sie umgehen und elegant kontern. Seinen Argwohn befeuerte noch, als Deep Blue nur ein paar Züge später einen eklatanten Fehler machte. Kasparow war ratlos. Wie konnte dasselbe Programm in ein und derselben Partie erst wie ein Großmeister und dann wie ein zweitklassiger Amateur spielen? Während das Publikum ungeduldig darauf wartete, dass der russische Weltmeister nach diesem Patzer des Computers das Heft wieder in die Hand nahm, zweifelte Kasparow immer mehr an sich selbst und an seinem Gegner. Hatte IBM jemanden mitgebracht, der sie beriet? Der erste Zug war ein Geniestreich gewesen, allenfalls eine Handvoll Spieler auf der Welt hätten ihn sich ausdenken können. Er musste an Anatoli Karpow denken, seinen größten Widersacher. Ob der hinter dem Vorhang hockte? Steckte Karpow mit IBM unter einer Decke? Oder waren sie mit einem ganzen Team angerückt, einer Legion von Großmeistern, die die Schnauze voll hatten von seiner Überlegenheit und, bezahlt aus den nie versiegenden Taschen dieser Computerfirma, nur darauf aus waren, ihn fertigzumachen? Aber wenn dem so war, wie ließ sich dann der zweite Zug erklären, dieser Patzer? Oder war das auch Absicht gewesen, um seinen Verdacht zu zerstreuen, mithin kein Fehler, sondern eine Finte, ein dreistes Manöver, um die vielen Köpfe der Hydra zu verbergen und die wahre Natur seines Gegners zu verschleiern? Während die Uhr lief, gelang es Kasparow nicht, aus seinem Kopf heraus und wieder ins Spiel zu finden. Die ganze Zeit griff er sich an die Haare, rieb sich mit den Händen übers Gesicht, und als es aufs Endspiel zuging, stand er einfach auf und stürmte von der Bühne, gab sich geschlagen, dabei hätte er, wie unschwer zu erkennen, in nur wenigen Zügen ein Patt erzwingen können. Kasparow verlor die übrigen vier Partien oder schaffte nur ein Remis, seine Schachkrone war er los. In den folgenden Monaten schwand ihm aller Mut, und er wurde zunehmend paranoid. Er behauptete, es müsse sich »menschlicher Verstand in der Maschine« befunden haben, und verlangte von IBM Zugang zu Hardware und Software, beharrte darauf, die Computerprotokolle einzusehen, wollte einen Blick in das Innenleben der Maschine werfen, um zu verstehen, wie das Programm zu seinen Entscheidungen gekommen war. Auch wollte er sehen, welche anderen Spiele Deep Blue gespielt hatte. Das sei nur fair, argumentierte er, schließlich habe IBM Zugriff auf Tausende seiner eigenen Partien und unbegrenzte Rechenleistung, womit sich seine Strategien, Eröffnungen und bevorzugten Züge analysieren ließen, während er, Kasparow, auf beiden Augen blind gewesen sei, da er keine einzige der von diesem Computer gespielten Partien miterlebt habe, nicht einmal habe er, auf der Suche nach der Wahrheit, seinem Gegner ins Gesicht sehen können. Der Tech-Riese weigerte sich jedoch und ging sogar so weit, den Computer zu zerlegen und das Projekt fallenzulassen. Der russische Meister nahm sich ein Jahr Auszeit, um sich zu erholen, er konnte schlicht nicht akzeptieren, was ihm passiert war, aber dann kam er zurück, stärker denn je, und gewann wie zuvor. 2005 zog er sich vom Schach zurück, auf der Weltrangliste immer noch die Nummer eins, spielerisch immer noch auf der Höhe, immer noch besessen von dem Gedanken an das unverständliche Verhalten von Deep Blue. Erst Jahre später gab einer der an dem Projekt beteiligten IBM-Programmierer zu, dass der eklatante Schnitzer, der Deep Blue in dieser verhängnisvollen zweiten Partie unterlaufen war und der Kasparow einen Nervenzusammenbruch beschert hatte, auf einem Softwarefehler beruhte: Da der Computer keinen optimalen Zug berechnen konnte, hatte er einfach einen beliebigen gewählt. In der Schachgemeinde gilt es als ausgemacht, dass die 1997er Version von Deep Blue erheblich schwächer war als Kasparow und dass es dessen innere Dämonen waren, die ihn besiegten, doch inzwischen haben sich moderne Nachfolger wie Fritz, Komodo und Stockfish so weit über unsere menschlichen Fähigkeiten hinaus entwickelt, dass sie nahezu unschlagbar sind. Alle diese Programme spielen Schach auf eine völlig andere Weise als wir. Sie setzen nicht auf Kreativität oder Vorstellungskraft, sondern wählen die besten Züge aufgrund reiner numerischer Berechnung und dank schierer Rechenleistung. Durchschnittliche Profis können etwa zehn bis fünfzehn Züge voraussehen, Algorithmen sind in der Lage, zweihundert Millionen Stellungen pro Sekunde zu berechnen, etwa fünfzig Milliarden in kaum mehr als vier Minuten. Dieser Ansatz, bei dem der Computer jede einzelne der sich aus jedem Zug ergebenden Möglichkeiten durchspielt, wird passenderweise Brute Force genannt. Während der Mensch sein Gedächtnis bemüht, Erfahrung, hochabstraktes Denken, Mustererkennung und Intuition, um das Brett gedanklich zu erfassen, versteht ein Schachprogramm das Spiel erst gar nicht, es nutzt lediglich seine Rechenleistung und trifft nach einer komplexen, beim Programmieren per Hand festgelegten Reihe von Regeln eine Entscheidung. Sobald das Gegenüber eine Figur auf ein schwarzes oder weißes Feld setzt, baut der Computer einen Suchbaum auf, bestehend aus jeder künftigen Stellung, die sich aus einer bestimmten Anordnung auf dem Brett ergeben könnte; der Baum wächst und verzweigt sich immer weiter, bis er ans Ende des Spiels gelangt, und unter den vielen Ästen wählt der Computer einfach die Ergebnisse aus, die er als am vorteilhaftesten einstuft. Mit jedem neuen Zug entsteht ein anderer Baum, da sich das Spiel ständig verändert und entwickelt, aber mit ausreichender Leistung kann der Computer so weit in die Zukunft blicken, dass er einem menschlichen Gegner immer einen Schritt, wenn nicht Tausende von Schritten voraus ist.
Go ist etwas anderes. Aufgrund seiner Komplexität macht das Spiel eine Brute-Force-Suche nahezu unmöglich. Während es beim Schach für jeden einzelnen Zug etwa 20 Möglichkeiten gibt, sind es bei Go über 200. Endet eine durchschnittliche Schachpartie nach etwa 40 Zügen, braucht es für eine einzige Go-Partie mehr als 200. Nach den ersten zwei Zügen beim Schach gibt es 400 mögliche Stellungen, beim Go sind es fast 130 000. Das Spielbrett selbst ist bei dem fernöstlichen Spiel viel größer – ein Gitter aus 19 mal 19 Linien –, das im Westen bekanntere Pendant ist begrenzt auf eine Welt aus lediglich 8 mal 8 Feldern. Woraus folgt, dass der kombinatorische Raum – die Größe des Baums, den ein Computer erzeugen müsste, um sämtliche sich aus einem Zug ergebenden möglichen Konfigurationen zu erfassen – schlicht gigantisch ist. Und während die Gesamtzahl möglicher Schachspiele bei etwa 10123 liegt, das ist eine Eins gefolgt von hundertdreiundzwanzig Nullen, ist die Anzahl aller möglichen Go-Spiele unvorstellbar größer: über 10700 potenzielle Partien. Dabei ist die Anzahl legaler Stellungen – die einzigen Anordnungen von Steinen, die sich ergeben können, sobald ein Spiel beginnt – so groß, dass sie erst 2016 eindeutig ausgerechnet wurde:
208 168 199 381 979 984 699 478 633 344 862 770