Heft 873, Februar 2022

Ein vielgehasster Mann

Günter Wallraffs Maskeraden von Michael Lipkin

Günter Wallraffs Maskeraden

Im Herbst 2009 geriet der Enthüllungsjournalist Günter Wallraff, lange schon berühmt für seine investigativen Undercover-Recherchen in Firmen wie Ford, Siemens und Melitta, wieder einmal in die Schlagzeilen. Anlass für die mediale Aufregung war der Kinostart des Films Schwarz auf weiß – Eine Reise durch Deutschland, in dem Wallraff den Rassismus gegenüber afrikanischen Geflüchteten in Deutschland dokumentierte. Wieder war Wallraff undercover unterwegs, diesmal als somalischer Flüchtling Kwami Ogonno. Mithilfe von mehreren somalischen Mitarbeitern schminkte Wallraff sein Gesicht braun, setzte sich eine Afro-Perücke auf und zeichnete mit einer wackeligen versteckten Kamera die spontanen, größtenteils negativen Reaktionen auf, die seine Anwesenheit quer durch Deutschland auslöste. Konnte sich Wallraff bis dahin immer auf die Sympathie oder zumindest das Interesse der Presse verlassen, wurde er dieses Mal regelrecht gegrillt. Vorhersehbar war die Kritik schwarzer Autorinnen und Autoren wie der Schriftstellerin und Schauspielerin Noah Sow, die in der Tagesschau erklärte: »Er kann als angemalter Weißer schwarze Erfahrungen nicht machen und auch nicht in einen Zusammenhang stellen, auch wenn er das glaubt oder versucht.« Die schärfsten Attacken kamen jedoch aus den Kreisen, die ihn bisher immer unterstützt hatten. Nach Ansicht der Süddeutschen Zeitung zeige der Film den Rassismus Wallraffs, nicht den Deutschlands: »Was Wallraff hier vorführt, ist weniger eine Anklage gegen den Rassismus als eine Inszenierung seiner eigenen Vorurteile«, schrieb Andrian Kreye. Die gesammelten Erkenntnisse des Films seien von vornherein durch seine Methode – das Blackfacing – kontaminiert. Der Text trug die psychologische Anklage schon im Titel: Ein Mann will gehasst werden.

Keine der Rezensionen ging ausführlicher darauf ein, dass Wallraff 1985 mit dem Reportagebuch Ganz unten und einer ganz ähnlichen Methode den Zenit seines Ruhms erreicht hatte. Nachdem ihn 1977 die Enthüllungsstory über die Bild-Zeitung, Der Aufmacher, deutschlandweit berühmt gemacht hatte, benutzte Wallraff immer öfter Verkleidungen und gefakte Identitäten für seine investigative Arbeit. Inspiriert von Black Like Me, John Howard Griffins Reportage von 1961 über seine Reise als Schwarzer durch den tiefen amerikanischen Süden, dokumentierte Wallraff die inakzeptablen Arbeitsbedingungen und den konstanten Rassismus, denen er als türkischer Gastarbeiter namens Ali Sinirlioğlu begegnet war. Die türkische Einwanderung war gerade ins Zentrum der öffentlichen Debatte gerückt, als Ganz unten erschien; rechtsextreme Parteien, seit Jahrzehnten von der Bildfläche verschwunden, erzielten in ganz Europa Wahlerfolge, und das Buch überstand – oder nutzte – die heftige Kritik von rechts wie von links und wurde ein Bestseller. Das Material, das Wallraff heimlich als Ali aufgenommen hatte, kam 1986 als Film heraus und wurde wohlwollend besprochen. Eine zweite Auflage des Buchs erschien 1988 und enthielt – typisch für Wallraffs Bücher – zusätzlich zweihundert Seiten dokumentarisches Material zu den Nachwirkungen der Veröffentlichung. Bis dahin hatte sich das Buch bereits eine Million Mal verkauft und war in dreißig Sprachen übersetzt worden.

Wie lässt sich die Diskrepanz zwischen Wallraffs größtem Misserfolg und seinem größten Erfolg erklären? Was sich in den vierundzwanzig Jahren zwischen Ganz unten und Schwarz auf weiß verändert hatte, von Wallraff aber nicht berücksichtigt worden war, war die »Amerikanisierung« des deutschen Diskurses über Rassismus. Natürlich hatte auch der amerikanische Diskurs in diesen Jahren seismische Verschiebungen erfahren. Durch die Bürgerrechtsgesetze Mitte der sechziger Jahre erhielt die schwarze Mittelschicht zum ersten Mal Zugang zu politischer und kultureller Macht. Wie auch die amerikanischen Juden, die jetzt nicht mehr durch antisemitische Quotengesetze ausgegrenzt wurden, sowie die vielen gutausgebildeten Einwanderer aus Ost- und Südasien, die nach der Revision der amerikanischen Einwanderungsgesetze durch Lyndon B. Johnson im Jahr 1965 ins Land kamen. Davor hatte man unter der »Rassenfrage« den Einsatz von staatlich unterstütztem Terror verstanden, mit dem man schwarze Bürger vom freien Zugang zu Krediten und Eigentum und vom Wahlrecht ausschloss.

Die Rassismusdebatten der folgenden Jahrzehnte konzentrierten sich im Gegensatz dazu auf das quälende Drama der Assimilation – das allgegenwärtige Gefühl, dass man als nichtweißer Bürger, egal, wie weit man es bringt, immer ein Eindringling bleibt. Dieser Wandel lässt sich zum einen an einer Reihe von Begriffen ablesen (»bias« – Befangenheit; »prejudice« – Vorurteil; neuerdings »Mikroaggression«), die zur Beschreibung der subtilen, unbewussten Feindseligkeit verwendet wurden, die an die Stelle des nun tabuisierten offenen Hasses getreten war; zum anderen daran, dass in den Debatten mit der größten öffentlichen Sichtbarkeit vergleichsweise elitäre Probleme diskutiert wurden, etwa »positive Diskriminierung«, Verhaltenskodizes an Universitäten oder mangelnde Repräsentation auf den höchsten Ebenen der Gesellschaft. Die vorangegangenen Debatten um das mit der Hautfarbe verbundene Armutsrisiko, die ungleiche Verteilung von Aufstiegschancen und Lebenserwartung oder auch um Polizeigewalt, verschwanden dabei zwar nicht gänzlich. Schließlich war man mit derartigen Fragestellungen schon über die Nachrichten auch weiterhin regelmäßig und oft auf dramatische Weise konfrontiert – besonders heftig während der gewaltsamen Unruhen in Los Angeles 1992. Aber sie verblassten letztlich in dem Maß, in dem die Kriminalitätsrate allmählich sank, während das Bruttoinlandsprodukt zugleich anstieg.

Diese Entschärfung der Rassismusdebatte – die zunehmende Akzeptanz der Annahme, dass es zwar noch »zu tun« gebe, aber doch auch schon »Fortschritte gemacht« worden seien – traf ausgerechnet während der Präsidentschaft Obamas, als Amerika angeblich in eine »postrassistische Ära« eingetreten war, auf eine starke Gegenströmung. Als in den konservativen Medien die rassistische »Birther«-Verschwörung verbreitet wurde, von Bürgern aufgezeichnetes Filmmaterial von Polizeischießereien kursierte und schließlich Donald Trump zum Präsidenten gewählt wurde, bildete sich ein Gegendiskurs zum vorsichtigen Optimismus der vorangegangenen Jahrzehnte. Er verhandelte Rassismus nicht so sehr als Phänomen, für das die einzelnen Bürgerinnen und Bürgern individuell verantwortlich zu machen waren; das Verschulden sah er vielmehr bei den politischen Institutionen, dem Rechtssystem, den Finanzmärkten, dem Kulturbetrieb.

Der sich wechselseitig verstärkende strukturelle Rassismus in diesen Bereichen, so wurde argumentiert, habe verheerende Folgen, etwa die enorme Ungleichverteilung von Hausbesitz unter Schwarzen und Weißen, und führe zu den eingewachsenen gesellschaftlichen Machtverhältnissen, für die der Begriff der »white supremacy« geprägt wurde. Wie sonst ließe sich die fortdauernde Segregation in den Schulen erklären, trotz aller Gesetze, die genau das verbieten, trotz jahrzehntelanger Integrationsversuche? Weil der neue Rassismusdiskurs sich primär für überindividuelle historische Prozesse interessierte, gingen daraus in erster Linie Beiträge zu einer Archäologie des strukturellen Rassismus hervor, beispielsweise Studien zum Geschäftsgebaren der Spar- und Darlehenskassen. Das analytische Paradigma der Vorgängerdebatte, die den Rassismus der moralischen Haltung jedes/jeder Einzelnen zugeschrieben hatte, wurde dadurch überlagert, es blieb aber weiterhin präsent.

Die Kontroverse um Schwarz auf weiß griff diesen doppelten Diskurs auf und übertrug ihn auf den deutschen Kontext. Nahezu jeder Aspekt ist beeinflusst von der amerikanischen Rassismusdebatte, von Noah Sows Verwendung des englischen Begriffs »people of color« über den kurzen Exkurs der Süddeutschen Zeitung zur Geschichte des Blackfacing in Amerika bis hin zur Themenwahl Wallraffs – der sich, statt dem Rassismus gegen Schwarze nachzugehen, in Deutschland ebenso gut auch mit dem historisch naheliegenderen Phänomen des Antisemitismus hätte beschäftigen können. Ungeachtet ihrer Meinungsverschiedenheiten kamen Wallraff, Sow und die SZ alle zum gleichen widersprüchlichen, eindeutig von den US-Debatten geprägten Befund: dass trotz großer Fortschritte an der Oberfläche nach wie vor ein ausgeprägter Rassismus existiert; und dass gerade wegen dieser Fortschritte Rassismus nicht mehr politisch oder juristisch bekämpft werden kann, sondern auf dem Feld der Kultur besiegt werden muss.

Am deutlichsten zeigt sich der Einfluss der amerikanischen Diskurse jedoch in der Aussage über die unüberbrückbare Kluft in der Erfahrung von Rassismus zwischen Schwarz und Weiß. Vierundzwanzig Jahre zuvor hatten die Verteidiger von Ganz unten noch argumentiert, das Buch habe trotz Wallraffs Methode spürbar Gutes bewirkt. Die angegriffenen Unternehmen klagten gegen Wallraff und verloren, und das Thema Gastarbeiter rückte in den Fokus. Die Kritiker von Schwarz auf weiß dagegen erklärten, ein weißer Autor könne bei allen guten Absichten die Erfahrung, was Schwarzsein bedeutet, niemals nachvollziehen. Erst elf Jahre später, nach der Tötung George Floyds und den darauffolgenden Protesten, begannen amerikanische Streaming-Dienste damit, Shows und Filme, die Blackfacing enthielten, aus ihren Beständen zu löschen oder ihnen Trigger-Warnungen voranzustellen.

In Amerika wie in Deutschland sind cross-racial-Reportagen mittlerweile tabu. Das wird wohl auch in Zukunft so bleiben. Aber was ist mit der Vergangenheit? Ganz unten hat sich bis heute erstaunliche vier Millionen Mal verkauft. Hat das Buch uns heute noch etwas zu sagen? Wie kam Wallraff, der einst die Arbeiterliteratur des frühen 20. Jahrhunderts wiederbeleben wollte, überhaupt auf das Thema Rassismus? Wie kam es, dass ein Buch, das sich einer Methode bediente, die sich in Auseinandersetzung mit den spezifischen Verhältnissen in den USA entwickelt hatte, in Deutschland einen solchen Nerv traf? Gibt es etwas spezifisch Deutsches an Wallraffs türkischer Maskerade? Und kann Ganz unten uns heute noch etwas anderes vermitteln als die Hybris des Unternehmens?

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