Heft 871, Dezember 2021

Eine kurze Geschichte der Betroffenheit(skritik) in der Bundesrepublik

von Florian Hannig

Anfang des Jahres entbrannte eine rege Debatte um Identitätspolitik, deren Hitze immer noch nicht erloschen ist. Im Zentrum des Feuers stand Wolfgang Thierse mit seiner Warnung vor den Gefahren einer »cancel culture«, welche die Gesellschaft spalte. In einem Radio-Interview hatte Thierse unter anderem erklärt: »Aber unsere Tradition seit der Aufklärung ist doch die, nicht die Betroffenheit, nicht das subjektive Empfinden darf entscheidend sein, sondern das vernünftig begründende Argument, das muss uns miteinander verbinden, das muss den Diskurs strukturieren. Denn sonst ist klar: Thierse ist ein alter weißer heterosexueller Mann. Seine Ansichten sind so definiert und damit ist der Fall erledigt.«1

Was Thierse in diesem Auszug verhandelt, ist die Legitimität von Diskriminierungserfahrungen im politischen Diskurs. Dass er dafür den Begriff »Betroffenheit« verwendet, ist kein Zufall. Vielmehr verweist dessen wechselvolle Begriffsgeschichte auf Voraussetzungen, welche die aktuelle Debatte prägen.

Ursprünglich war »Betroffenheit« vor allem in der bundesrepublikanischen Verwaltungssprache gebräuchlich. Damit wurde der »soziale Umfang von Planungen und Entscheidungen umrissen«. In den 1970er Jahren wanderte der Begriff in den allgemeinen Sprachgebrauch ein und erlebte eine »atemberaubende Karriere«. Verwendet wurde er vor allem im alternativen Milieu, von Selbsthilfegruppen, neuen sozialen Bewegungen, Bürgerinitiativen und den diese neuen Phänomene beobachtenden Sozialwissenschaften.2 In diesem Prozess bewegte sich »Betroffenheit« aus der Enge eines »metrisch objektivierbaren Definitionskriteriums« heraus und bekam zusätzlich die subjektive Dimension der Selbsteinschätzung: Betroffen war man nicht nur, sondern häufig fühlte man sich auch so.3

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