Einig, uneins zu sein
Zur Debatte um Achille Mbembe von Cristina NordBeginnen möchte ich vor der Haustür, mit einem Spaziergang durch das Afrikanische Viertel in Berlin-Wedding. Gehe ich aus dem Haus, bin ich in einer Minute an der Lüderitzstraße, benannt nach Adolf Lüderitz, einem Bremer Händler, der im späten 19. Jahrhundert der Kolonisierung des heutigen Namibia den Weg bereitete. Folge ich der Straße in Richtung Nordwesten, komme ich nach etwa zehn Minuten Fußweg zum Dauerkleingartenverein Togo e.V., dessen Betreiber sich lange Zeit weigerten, vom ursprünglichen Namen »Dauerkolonie Togo« abzulassen. Ein paar Schritte weiter, am Rand des Rehberge-Parks, findet sich eine zweite Kleingartenanlage, sie nennt sich Kolonie Klein-Afrika. Zwei Gehminuten östlich liegt der Nachtigalplatz, dessen Namenspate, Gustav Nachtigal, 1884 Reichskommissar in Deutsch-Westafrika wurde. 2018 beschloss die Bezirksverordnetenversammlung, die nach Kolonialherren benannten Straßen umzubenennen. Weil Anwohner und Anwohnerinnen Widerspruch einlegten, ist dies noch nicht geschehen. Eine Petersallee gibt es auch; dazu komme ich später.
In diesem Text geht es um Achille Mbembe, einen in Südafrika lehrenden, in Kamerun aufgewachsenen Philosophen und Historiker, der sich Gedanken darüber macht, was Kolonialismus war, wie er in die Gegenwart hineinragt und wie sich sein spaltendes, feindseliges Erbe hin zu einem »Gemeinsam-Sein« verschieben lässt. Es geht auch um die Diskussion, die entflammte, nachdem Stefanie Carp, die Intendantin der Ruhrtriennale, angekündigt hatte, Mbembe werde den Eröffnungsvortrag des diesjährigen Festivals halten. Lorenz Deutsch, ein nordrhein-westfälischer FDP-Kulturpolitiker, reagierte darauf, indem er am 23. März 2020 per offenem Brief forderte, den Theoretiker auszuladen. Denn der habe einen Boykottaufruf der BDS-Bewegung unterzeichnet (BDS steht für: Boykott, Desinvestitionen, Sanktionen gegen israelische Künstlerinnen, Unternehmen, Akademiker). »Er relativiert nicht nur den Holocaust«, schreibt Deutsch weiter, »er setzt die heutigen Juden Israels in der Logik der Gesamtargumentation an die Stelle der nationalsozialistischen, weißen Verbrecher – ein bekanntes Muster!« Felix Klein, der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, sprang Deutsch zur Seite, Journalisten wie Alan Posener, Jürgen Kaube oder Tobias Rapp stimmten ein, nicht zuletzt, weil Stefanie Carp schon 2018 Musiker einladen wollte, die die BDS-Bewegung unterstützten. Auch Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, schloss sich der Kritik an.
Die Konter ließen nicht auf sich warten; sie reichten von differenzierten Stellungnahmen wie denen von Eva Illouz, Susan Neiman und Aleida Assmann hin zu Verteidigungen, die für die problematischen Textstellen taub und für Aktivitäten Mbembes blind waren, die zwar nicht der BDS-Bewegung im engen Sinn angehörten, aber doch eine ähnliche Stoßrichtung hatten. In der Zwischenzeit wurde die Ruhrtriennale wegen der Corona-Pandemie abgesagt; die Debatte ging weiter. Eine Gruppe jüdischer Intellektueller und Künstlerinnen verlangte die Absetzung Felix Kleins. Ein weiterer offener Brief, unterzeichnet unter anderem von Micha Brumlik und Wolfgang Benz, warnte davor, den Vorwurf des Antisemitismus leichtfertig einzusetzen und das Vergleichen unter Verdacht zu stellen, obwohl es notwendiges Werkzeug wissenschaftlichen Arbeitens sei. Mbembe selbst verteidigte sich: Er gehöre der BDS-Bewegung nicht an, er sei kein Antisemit, er beharre auf dem Recht, die israelische Siedlungspolitik im Westjordanland zu kritisieren, und die Angriffe gegen ihn seien zumindest in Teilen Ausdruck von Rassismus.
Die Urteile fielen schneller, als ich mir Politik der Feindschaft, das Buch, das die meisten der beanstandeten Passagen enthält, bestellen, geschweige denn es lesen konnte. Ihnen mit diesem Text ein weiteres hinzuzufügen, ist nicht mein Ziel. Lieber möchte ich versuchen, in eine verkeilte, in weiten Teilen unversöhnlich geführte, an Rücktrittsforderungen und Retourkutschen reiche Debatte Beobachtungen und Eindrücke einzubringen, die ich aus meinen Erfahrungen in der internationalen Kulturarbeit für das Goethe-Institut und das Berlinale Forum ableite.
Dabei liegt mir auch daran, mir über mich selbst klarer zu werden. Denn Achille Mbembe gehört zunächst meine ganze Sympathie. Kritik der schwarzen Vernunft ist für mich ein Schlüsseltext, um zu verstehen, wie weiße Suprematie in die Welt kam und was sie dort anrichtete. Mbembe hat zudem wertvolle Überlegungen angestellt, was den Umgang mit Kulturgütern betrifft, die bei kolonialen Expeditionen geraubt wurden und sich heute in europäischen Sammlungen finden. Als ich am Goethe-Institut Brüssel an einem internationalen Projekt namens »Alles vergeht, außer der Vergangenheit« arbeitete, das um die Frage kreiste, was europäische Kultureinrichtungen, Museen oder Filmarchive mit den kolonialen Artefakten tun können, über die sie verfügen, hätte ich ihn gerne als Gast zu einem der Workshops begrüßt, und wenn es nicht dazu kam, so hatte es vor allem damit zu tun, dass er ein gefragter Redner mit einem vollen Kalender ist.
Am Anfang der Auseinandersetzung staunte ich also ungläubig: Woher um alles in der Welt nehmen Lorenz Deutsch und Felix Klein ihre Anschuldigungen? Doch je mehr ich mich vertiefte, umso mehr wuchs mein Unbehagen. Anlass dafür waren die vielzitierten Passagen aus Politik der Feindschaft, die für sich genommen noch debattierbar sein mögen, in ihrer Häufung und ihrer Konzentration aber von einer desolat unreflektierten Position gegenüber Israel kündeten. Hinzu kamen drastisch formulierte Sätze aus einem kurzen Beitrag zu dem Band Apartheid heute, außerdem der Druck, den Mbembe 2018 ausübte, damit eine israelische Wissenschaftlerin nicht zu einer Tagung anreiste, schließlich seine Unterschrift unter einer Erklärung, die den Abbruch der Beziehungen zwischen der Universität Johannesburg und der israelischen Ben-Gurion-Universität forderte. Ich brauchte ein wenig, bis ich verstand, warum ich das Unbehagen verspürte: weil in mir zwei grundlegende Imperative, zwei ethische Grundüberzeugungen in Widerstreit gerieten.