Erdgas für Europa
von Tom StevensonIn Westeuropa – wohlhabend, bevölkerungsreich und hochentwickelt – herrschte immer schon Rohstoffmangel. An Bodenschätzen reichere, aber abgesehen davon ärmere Gesellschaften in anderen Teilen der Erde bekommen die Konsequenzen seit mindestens fünfhundert Jahren zu spüren. Die Industriestandorte im Seine-Loire-Becken, in der Po-Ebene, an der bayrischen Donau und in der Rhein-Ruhr-Metropolregion haben einen unstillbaren Hunger nach fossilen Kohlenwasserstoffen, der durch die schwindenden Lagerstätten Europas in den Niederlanden und an der Nordsee nicht befriedigt werden kann. Heute ist jedes europäische Land mit Ausnahme von Norwegen und Dänemark Nettoimporteur von Erdöl und Erdgas; Deutschland importiert mehr Erdgas als jedes andere Land der Erde. Die nordatlantische Peripherie kann sich über Stavanger und Aberdeen zum größten Teil selbst versorgen, aber die Rohstoffe für die Großindustrie auf dem europäischen Festland – Edelmetalle ebenso wie Kohlenwasserstoffe – kommen notgedrungen von außerhalb. Österreich, Italien, sogar das auf Atomenergie setzende Frankreich: Europa ist in Sachen Energie aufgrund seiner geografischen Beschaffenheit schlichtweg nicht autark.
Europas wichtigster Erdöllieferant ist heute Russland, aber auch Kasachstan, Irak, Nigeria und Libyen spielen eine bedeutende Rolle. Mehr als die Hälfte des europäischen Erdgases kommt aus nur einer einzigen Region: Sibirien. Die Gasfelder östlich des Urals, auf der Jamal-Halbinsel und an der Karasee sind die größten der Welt. Und es gibt kaum Vorkommen, die unzugänglicher wären. Im Winter sinkt die Temperatur unter minus 40 Grad Celsius. Der durchgängig gefrorene Untergrund ist von Schnee bedeckt. Im Sommer, wenn sich der Permafrostboden in einen unpassierbaren Sumpf verwandelt, sind die Bedingungen sogar noch schlechter. Um an das Gas heranzukommen, muss man einen Kilometer oder tiefer in die Gesteinsschichten bohren, ins Cenomanium oder ins Albian, mitunter sogar bis in das aptianische Gestein, das sich vor mehr als einhundert Millionen Jahren gebildet hat. Die Bohrungen machen allerdings nur einen Teil des Aufwands aus. Es müssen Städte für die Arbeiter und Eisenbahnen, Brücken und Pipelines gebaut werden, um Menschen in die Region hinein und das Gas hinaus zu befördern. Ein gewaltiges Werk der Ingenieurskunst, dessen Kosten vom russischen Staat getragen werden.
In Großbritannien wie in Kontinentaleuropa ist die Russophobie gerade sehr in Mode – in Finnland und im Baltikum, wo dieses Gefühl verständlich ist, war sie schon immer weit verbreitet. Die Abhängigkeit von russischen Kohlenwasserstoffen ist aus dieser Perspektive ein fast pathologischer Missstand, man glaubt, Putin stehe an der Spitze eines wiedererstarkenden Imperiums, das die Vorherrschaft in der Region übernimmt. Das ist ein seltsamer Blick auf ein Land, dessen Wirtschaftskraft geringer ist als die Brasiliens. Die topografischen Herausforderungen für die Gasindustrie – die Kälte, die Härte der endlosen Steppe – sind Probleme, die Russland in seiner Gesamtheit betreffen. Ohne die überschießenden Ambitionen der Sowjetzeit haben diese Bedingungen zu nichts als Unterentwicklung geführt. Die Straße, die St. Petersburg im äußersten Westen mit dem ganz im Osten des Landes gelegenen Wladiwostok verbindet, war bis 2015 nicht durchgängig asphaltiert. Im heutigen Russland machen die Öl- und Gasverkäufe 60 Prozent der Exporte und 30 Prozent des BIP aus. Weit davon entfernt, ein wiederbelebtes Reich des Bösen zu sein, ist Russland zu einem Dritte-Welt-Modell der politischen Aristokratie zurückgekehrt, das in seiner Finanzierung auf dem Verkauf natürlicher Ressourcen beruht.
Zusätzlichen Einfluss kann Russland durch seine verbleibende militärische Stärke geltend machen – auch wenn sie, wie die Chinas, von der amerikanischen und europäischen Rüstungsindustrie stark übertrieben dargestellt wird. (Russland könnte wahrscheinlich Finnland erobern, sofern man sich in einem Paralleluniversum befände, in dem eine Reaktion der anderen europäischen Länder nicht zu erwarten wäre.) Kurzum, das Gerede von Russland als einer Bedrohung für Westeuropa ist lächerlich. Die von den allermeisten Nationen betriebene routinemäßige Cyberspionage wird im Fall Russlands als Beweis für böswillige Absichten gewertet. Attentate auf Dissidenten im Ausland sind zugegebenermaßen nicht hilfreich. Wie aber soll man die Abhängigkeit Europas von Russland im Energiebereich bewerten? Durch seine Akzeptanz einer schwachen Form des militärischen US-Protektorats hat Europa einen Teil seiner Autonomie aufgegeben. Verliert es durch die Abhängigkeit von russischem Gas noch mehr von seiner Selbständigkeit?
Erdgas ist der Treibstoff für häusliche Gemütlichkeit und warme Mahlzeiten. In der Industrie wird Erdgas vielseitig verwendet, von der Stromerzeugung bis hin zur Produktion von Düngemitteln. Direkt aus dem Boden gewonnenes Gas in Form von Methan und Alkanen wurde in Europa bis in die 1950er Jahre kaum genutzt. Es hat eine geringere Energiedichte als Kohle oder Öl, gibt aber bei der Verbrennung weniger Kohlenstoff in die Atmosphäre ab und ist nicht so gefährlich wie Kernkraft. So trug der Umstieg auf Gas bei der Wärme- und Stromerzeugung wesentlich dazu bei, den einstmals konstanten Smog in Städten wie London zu beseitigen. Erdgas galt lange Zeit als die logische Brückentechnologie im Übergang von fossilen Brennstoffen zu erneuerbaren Energien.
Die riesige Infrastruktur, die für die Förderung von Erdgas aus der Erdkruste erforderlich ist, bleibt meist unbemerkt, obwohl wenige menschengemachte Dinge derart beeindruckend sind. Man denke nur an die Gasförderplattform Troll A, ein Bauwerk, das so groß ist, dass seine Betonsäulen einhundert Meter hoch aus dem Wasser ragen, obwohl es auf dem Meeresboden vor der Westküste Norwegens steht. Mit einer Gesamthöhe von fast einem halben Kilometer und einem Gewicht von 680 000 Tonnen ist es das größte Bauwerk, das jemals gebaut und dann bewegt wurde. Sobald das Gasvorkommen angebohrt und auf Plattformen wie Troll A befördert ist, muss es dorthin transportiert werden, wo es gebraucht wird. Normalerweise wird es komprimiert und durch eine Pipeline vom Gasfeld zu seinem Bestimmungsort gepumpt. Die einzige andere Möglichkeit besteht darin, es auf minus 163 Grad Celsius herunterzukühlen, wodurch es sich in flüssiges Erdgas verwandelt, das in Hochseetankern verschifft werden kann. Das meiste Gas wird jedoch über Pipelines aus Stahl geliefert, die einen Durchmesser von anderthalb Metern erreichen und in einigen Fällen über Tausende von Kilometern hinweg verlaufen. Einmal verlegt, können die Pipelines nicht mehr umgeleitet werden: Sie bilden einen dauerhaften Komplex. Die Beziehung zwischen den Eigentümern des Gases und seinen Abnehmern muss langfristig sein, damit Bauvorhaben dieser Größenordnung sinnvoll sind, und das setzt auf Dauer angelegte strategische Allianzen voraus.
In seinem Buch The Bridge: Natural Gas in a Redivided Europe schildert Thane Gustafson den Aufbau der russisch-europäischen Energieallianz in beeindruckender Ausführlichkeit.1 Die ersten Pipelines zwischen Russland und Europa wurden in den späten 1960er Jahren verlegt, kurz nachdem man das Ausmaß der Gasreserven in Sibirien erkannt hatte. Sowjetische Planungsbeamte sahen sofort das Potential von Pipelines nach Europa. Erdgas konnte zu einem wahren Segen für die Industrialisierung des Staates werden, aber die UDSSR hatte mehr Erdgas, als sie gebrauchen konnte, während ihr das nötige Kapital fehlte, um ihre Entwicklung aus eigener Kraft voranzutreiben. Die ideologischen Bedenkenträger – auf beiden Seiten – streckten die Waffen angesichts des strategischen Nutzens. Gustafson beschreibt die Entstehungsgeschichte von Gazprom, dem staatlichen Gasunternehmen, und verzichtet dabei auf jedes leichtfertige antirussische Ressentiment. Er zeigt seine Hochachtung vor den Gazoviki, die das System konzipierten, insbesondere für Alexej Kortunow, der in den 1960er Jahren unter der Leitung von Alexei Kossygin, einem hochrangigen Mitglied des Politbüros, und Nikolai Baibakow, dem Vorsitzenden des staatlichen Planungskomitees, die sibirischen Gasreserven erschloss. Kortunow entwarf die Industrie, die das sowjetische Energiesystem revolutionierte, und Kossygin schlug die Bresche in den Eisernen Vorhang, durch die schließlich sibirisches Gas nach Europa fließen konnte. Die erste Pipeline nach Österreich wurde 1968 eröffnet, gänzlich unbeeinträchtigt von der Invasion in der Tschechoslowakei zur gleichen Zeit. Der benötigte Stahl kam aus der Bundesrepublik.
Die strategischen Implikationen der ersten »Gasbrücke«, wie Gustafson sie nennt, waren kompliziert. Der sowjetische Präsident Leonid Breschnew wollte mit dem Geld aus den Energieexporten das Wettrüsten mit den USA finanzieren und die sowjetische Invasion in Afghanistan vorantreiben. Doch andere Mitglieder der Nomenklatura waren der Meinung, das Geld solle anderweitig verwendet werden. Kossygin meinte, es solle in die nichtmilitärische Entwicklung fließen: Gustafson zitiert aus einem Brief an das Politbüro aus dem Jahr 1980. Breschnews Plan, heißt es darin, sei »schlecht durchdacht […], abenteuerlich und ohne jede verlässliche wirtschaftliche oder politische Grundlage, weshalb er die UDSSR diskreditiert«. Kossygin trat zurück und starb zwei Monate später. Nach seinem Tod steckte Breschnew große Mittel in ein erweitertes Pipeline-Bauprojekt. Innerhalb weniger Jahre wurden sechs neue Pipelines mit großem Durchmesser gebaut, um Europa mit den sibirischen Gasfeldern zu verbinden: ein Netz von insgesamt etwa zwanzigtausend Kilometern – das auch heute noch von großer Bedeutung ist.
Der Newsletter der Kulturzeitschrift MERKUR erscheint einmal im Monat mit Informationen rund um das Heft, Gratis-Texten und Veranstaltungshinweisen.