Erfolgsgeschichte Bundesrepublik
Vom Anfang und Ende einer Meistererzählung von Thomas HertfelderVom Anfang und Ende einer Meistererzählung
»Wir sind ein sehr erfolgreiches demokratisches Entwicklungsland.« Mit dieser überraschenden Formel brachte Christoph Möllers seine Wahrnehmung der Bundesrepublik im Jahr 2008 auf den Punkt, während die Republik im Schatten der Weltfinanzkrise auf ihr sechzigstes Gründungsjubiläum zusteuerte. »Wir«, die Exportweltmeister; »wir«, die Weltmeister im Bewältigen von Diktaturen; »wir«, der Anker demokratischer Vernunft in der Mitte Europas – ein Entwicklungsland?
Möllers begründete seine Provokation ganz einfach: Ein demokratisches Entwicklungsland sei die Bundesrepublik schon deshalb, weil ihre demokratischen Traditionen noch jung seien – vierzehn Jahre Weimar, sechzig Jahre Bonn /Berlin –, aber auch weil sich die Entfaltung der Demokratie in Westdeutschland den außergewöhnlich günstigen historischen Umständen der Nachkriegsära verdanke. »Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden wir zu einer politisch und institutionell sehr erfolgreichen Demokratie, die Regierungswechsel mit politischer Stabilität verband, die viele erfolgreiche institutionelle Lösungen erfand oder eigenständig weiterentwickelte«. Dieses selbstbewusste Fazit mit seinem aufreizend inklusiven »Wir« entsprach einer unter den Eliten des Landes weit verbreiteten Auffassung, als 2009 der sechzigste Geburtstag der Bundesrepublik zu feiern war.
Eine Demokratie auf Bewährung
Eine derart positive historische Bilanz, wie sie 2009 zum Grundgesetzjubiläum allenthalben aufgemacht wurde, wäre noch fünfundzwanzig Jahre zuvor schwer denkbar gewesen. Manch konservativem Historiker galt damals die Bundesrepublik nicht nur als unvollendete, da geteilte Nation, sie schien auch an anderen Defiziten zu leiden. Der Erlanger Historiker Michael Stürmer etwa diagnostizierte 1986 einen »Verlust an Geschichte« und die Erosion »gemeinsamer Werte«. Der »politische Ernstfall« drohe einzutreten, sollten sich die Deutschen nicht bald auf ihre »Identität in Europas Mitte« besinnen. Es könne nämlich durchaus sein, so Stürmer weiter, »dass die Bundesrepublik den besten Teil ihrer Geschichte hinter sich« habe.
Aber auch für linksliberale Historiker hatte die Bundesrepublik in den achtziger Jahren ihre Bewährungsprobe im Schlagschatten des deutschen Sonderwegs noch keineswegs abschließend bestanden. So charakterisierte Karl Dietrich Bracher, der Doyen der deutschen Zeitgeschichtsschreibung, in der ersten umfassenden Synthese zur Geschichte der Bundesrepublik 1986 das Land zwar als ein »leistungs- und wandlungsfähiges, stabiles und offenes Gemeinwesen«, warnte im Fortgang seiner Analyse indes gleich mehrfach vor einer Rückkehr »Weimarer Verhältnisse«. Sein Kollege Martin Broszat wiederum meldete im Sommer 1989 – man feierte vierzig Jahre Bundesrepublik – Zweifel am politischen Bewusstsein der Deutschen an und befürchtete eine Rückabwicklung der Demokratisierungsprozesse der sechziger und siebziger Jahre. Eine durchaus kritische Bilanz zogen auch die Autorinnen und Autoren einer dreibändigen Geschichte der Bundesrepublik, die Wolfgang Benz 1983 herausgegeben hatte. Bei allem grundsätzlichen Vertrauen in die Belastbarkeit der institutionellen Ordnung waren sie sich keineswegs sicher, ob die Mehrheit ihrer Landsleute im Fall des Falles für ihre Demokratie auch einstehen würden: Das Gespenst der »Weimarer Verhältnisse« hatte seinen Schrecken noch nicht verloren. In linksliberaler Sicht blieb die Bundesrepublik bis in die achtziger Jahre hinein eine Demokratie, deren Stabilität jedenfalls nicht restlos zu vertrauen war, die durchaus bedroht schien von Regressionen – kurzum: eine Demokratie auf Bewährung.
Die Geschichte der Bundesrepublik, die in den achtziger Jahren als Forschungsgegenstand erst eigentlich entdeckt wurde – sie war eben nicht nur einfach die Geschichte einer Demokratie, sie war auch und vor allem die Geschichte einer Demokratie, die im Schatten von Völkermord und Vernichtungskrieg stand. Diese Schatten hatten vor dem Hintergrund der großen Debatten zwischen der Fernsehserie Holocaust (1979) und dem Historikerstreit (1986/87) deutlichere Konturen bekommen, und sie kontrastierten eigentümlich mit dem Glanz des ökonomischen Erfolgs, in dem sich die Republik nur allzu gerne sonnte. Denn das »Wirtschaftswunder« hatte sich wegen seines realen Erfahrungskerns im historischen Bewusstsein der westdeutschen Bevölkerung ungleich tiefer eingebrannt als etwa die Verabschiedung des Grundgesetzes 1949. Kritische Beobachter sahen deswegen den wahren Identitätskern der Bundesrepublik in der Ökonomie. Schon Michel Foucault hatte seinen Studierenden am Collège de France im Januar 1979 die westdeutsche Demokratie als einen »radikal ökonomischen Staat« erklärt, weil für dessen Legitimität im Wesentlichen die Wirtschaft sorge.
Zehn Jahre später unkte der britische Wirtschaftshistoriker Harold James in den Schlussbetrachtungen zu seinem Buch A German Identity, dass die Bonner Republik eine ernste ökonomische Krise wohl nicht überstehen würde, während der Münchner Zeithistoriker Ludolf Herbst nüchtern notierte: »Die Staatsräson der Bundesrepublik ist der wirtschaftliche Erfolg.« Dass die Stabilität der parlamentarischen Demokratie der Bundesrepublik vor allem auf materiellem Wohlstand und ökonomischer Potenz beruhe, die Demokratie bei der Mehrheit der Deutschen aber keine allzu tiefen Wurzeln geschlagen habe, das war noch in den achtziger Jahren ein Topos kritischer Gegenwartsdiagnose.
Als Soziologen gegen Ende des Jahrzehnts schließlich einen Wandel der politischen Kultur zugunsten einer fundamentalen Akzeptanz der demokratischen Ordnung und westlicher Werte beobachteten, sah Jürgen Habermas eben diesen Wandel durch die Deutschlandpolitik des Kanzleramts im Zuge der Wiedervereinigung erneut gefährdet. Ein neuer Wirtschaftsnationalismus, so konstatierte er 1990, könne den eben erst aufkeimenden Verfassungspatriotismus wieder ruinieren und am Ende ein »einig Volk von aufgebrachten Wirtschaftsbürgern« hervorbringen.
Zur Genese der Meistererzählung
Meistererzählungen konstruieren die Geschichte eines Kollektivs über einen längeren Zeitraum, indem sie auf eine Perspektive fokussieren, die für dessen Selbstverständnis von hoher Relevanz erscheint. Indem sie sich um einen oder wenige Plots herum organisieren, folgen sie kulturell tief verankerten Vorstellungen vom Lauf der Dinge, von Aufstieg und Niedergang, von Verlust und Wiedergewinn, von Unterwegssein und Ankunft usw. Charakteristisch sind daher weniger einzelne Episoden oder Argumente, sondern deren narrative Tiefenstruktur, die einem Magnetfeld gleich die einzelnen Elemente der Erzählung ordnet und die Deutung der Daten bestimmt. Zwar sind sie offen für die Erörterung komplexer Zusammenhänge und die Verarbeitung fachwissenschaftlicher Expertise, doch bündeln sie die Perspektive auf einen bestimmten Fluchtpunkt und sind daher leicht memorierbar.
Vor allem: Meistererzählungen werden nicht einfach von Historikern in die Welt gesetzt. Sie bilden sich vielmehr in einem komplexen Aushandlungsprozess zwischen Expertinnen und Massenmedien, Politik und Deutungseliten, Bildungsinstitutionen und engagierter Öffentlichkeit heraus und können insofern als Reflex der herrschenden Verhältnisse verstanden werden: Der Begriff des Meisters impliziert nicht nur Kennerschaft, sondern auch Macht. Und obwohl historische Forschung mittlerweile einen guten Teil ihrer Energie darauf verwendet, Meistererzählungen zu dekonstruieren, führen sie zugleich in Geschichtsschreibung und Öffentlichkeit ein verblüffend vitales Eigenleben.
Die Meistererzählung, die das eingangs zitierte Bewährungsnarrativ im Lauf der 1990er Jahre schließlich ablösen sollte, hatte ihren ersten breitenwirksamen Auftritt dann auch nicht bei einer wissenschaftlichen Tagung oder in einer Buchveröffentlichung, sondern in dem von Helmut Kohl initiierten »Haus der Geschichte der Bundesrepublik« in Bonn. Dort durften die Besucherinnen und Besucher 1994 unter dem Motto »Geschichte erleben« nicht nur eine neuartige Ausstellungsarchitektur, sondern auch gleich eine neue Version der Geschichte ihres Landes bestaunen. Das in Fachwissenschaft und Medien anfangs sehr kontrovers diskutierte Museum präsentierte sie als demokratische Erfolgsgeschichte in identitätsstiftender Absicht und lieferte damit den Prototyp für das neue Narrativ.
Wie dieser Umdeutungsprozess konkret verlief, lässt sich anhand einer Reihe gewichtiger Synthesen renommierter Historiker nachvollziehen. Überwiegend monografisch, manchmal auch als Schlussakkord einer weit vor 1945 einsetzenden Geschichte, beziehen sich deren Autoren auf ältere und neuere Kategorien der Forschung – Heinrich August Winkler etwa auf den »deutschen Sonderweg«, Eckart Conze auf den Topos der »Sicherheit« und Ulrich Herbert auf eine von ihm zuvor entworfene Theorie der »Hochmoderne« – und setzen dabei unterschiedliche Akzente. Die Darstellungen bewegen sich auf der Höhe der zeitgenössischen Forschung und entfalten eine thematisch weit verzweigte Geschichte, sie notieren Ambivalenzen und Rückschläge und enthalten sich der Apologetik. Und dennoch erzählen sie über alle Unterschiede hinweg die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland als eine fulminante demokratische Erfolgsgeschichte.
Dies mag zum einen schlicht am Zeitpunkt liegen. Die Synthesen wurden alle nach 1990 und in ihrer Mehrzahl erst nach der Überwindung der akuten Vereinigungskrise, die bis in die frühen Nullerjahre reichte, verfasst. Ihre durchwegs männlichen Autoren stammen allesamt aus Westdeutschland: Als Mitglieder einer akademischen Deutungselite blicken sie aus einer linksliberalen Perspektive auf die Republik. Diese aber trieb, während die Bücher entstanden, die Aufarbeitung zweier Diktaturen mit Macht voran, erlebte unter der Ägide von Gerhard Schröder und Angela Merkel einen bemerkenswerten Liberalisierungsschub und stellte ihre zunehmende gesellschaftliche Diversität und kulturelle Vielfalt mit wachsendem Selbstbewusstsein zur Schau. So geriet die Bundesrepublik des beginnenden 21. Jahrhunderts nicht nur in zeitlicher, sondern auch in normativer Hinsicht zum perspektivischen Fluchtpunkt der Erzählung. Dieser Fluchtpunkt musste umso spektakulärer wirken, je genauer man ihn auf die Ausgangslage der Jahre um 1945 bezog.
Der zweite Grund, warum die jüngeren Gesamtdarstellungen zur Geschichte der Bundesrepublik auf eine glänzende Erfolgsgeschichte hinauslaufen, ist struktureller Natur. Das neue Narrativ folgt einer erzählerischen Vorgehensweise, die sich von der der borussischen Großhistoriker des 19. Jahrhunderts erstaunlich wenig unterscheidet: Ein Gelehrter von Rang synthetisiert die Ergebnisse der Spezialforschung zu einem großen, im Wesentlichen chronologisch organisierten Werk, das den Gang des Großkollektivs »Nation« durch die Fährnisse der Weltgeschichte nachzeichnet. In der Meistererzählung von der »Erfolgsgeschichte Bundesrepublik« werden hochaggregierte Verlaufsbegriffe wie »Demokratisierung«, »Liberalisierung« oder »Modernisierung« mit dem Strom der Ereignisse zu langen narrativen Linien verwoben, in denen die höchst unterschiedlichen Lebenswelten, Erfahrungsweisen und Perspektiven der Menschen weitgehend aufgehoben scheinen. Der Protagonist und heimliche Held dieser magistral vorgetragenen Erzählung bleibt nämlich abstrakt und bildet zugleich das Explanandum: die Demokratie der Bundesrepublik. Wie kam es, dass aus der physischen und moralischen Trümmerlandschaft der Nachkriegsjahre eine gut funktionierende, weltweit geachtete Demokratie wurde? Indem die Autoren Antworten auf diese Frage bieten, bedienen sie nach dem disruptiven Untergang des realen Sozialismus und im Zeichen der rasch ausgreifenden Globalisierung ein weitverbreitetes Bedürfnis nach narrativer Orientierung und politischer Legitimation.