Heft 880, September 2022

Erfurt zum Beispiel

Zur Frage der Straßennamen von Matthias Dell

Zur Frage der Straßennamen

Im Dezember 1991 stimmte der Erfurter Stadtrat über die Umbenennung einer Reihe von Straßen ab, die nach historischen Persönlichkeiten benannt waren. Begründet wurde der Vorgang mit einem lapidaren Satz: »Eine Überprüfung der Biographien der betreffenden Personen ergab, daß aus heutiger Sicht ihre Leistungen eine Straßennamensvergabe kaum rechtfertigen.«

Die Formulierung ist plausibel, insofern die Benennung einer Straße nach einer Person eine Ehrung darstellt. Die wechselvolle deutsche Geschichte macht nachvollziehbar, dass die Gründe für solch eine Ehrung sich ändern können. Sie sind abhängig vom jeweiligen politischen System, das sich über symbolische Formen des Gedenkens in eine bestimmte geschichtliche Linie stellt. Die Weimarer Republik hatte ein anderes Selbstverständnis als das Kaiserreich, das der DDR unterschied sich von dem der NS-Diktatur.

Wobei diese monolithische Gegenüberstellung der einzelnen Systeme ein Teil des Problems ist, vor dem die Debatte über Straßennamen aktuell steht. Die Arbeit der Geschichtswissenschaft ist dynamisch, die Diskussion und Bewertung des Gewesenen ein sich ständig verändernder, tendenziell unabschließbarer Prozess. So unterhielt die DDR der frühen Jahre etwa ein anderes Verhältnis zum preußischen Erbe als in ihrer Endphase. Gleiches gilt für den Stalinismus: Die Denkmäler und Straßennamen, die den sowjetischen Diktator in den Anfangsjahren ehren sollten, verschwanden nach 1961 aus den Stadtbildern. Im wiedervereinigten Deutschland differenziert sich wiederum der Blick auf den Umgang mit der NS-Zeit in den Anfangsjahren der Bundesrepublik aus; spätestens mit der medial stark begleiteten kritischen Aufarbeitung von personalen Kontinuitäten im Auswärtigen Amt nach 1945 hat seit 2010 eine umfängliche Erforschung westdeutscher Institutionengeschichte eingesetzt, die bis heute anhält. Gerade in der Zeitgeschichte, die sich mit der jüngsten Epoche, in der Regel den vergangenen dreißig Jahren befasst, wird man nicht müde zu betonen, dass historische Erkenntnisse »stets aus den Problemlagen der Gegenwart gewonnen« werden. Es läge also auf der Hand, dass die in jüngerer Zeit verstärkte Befassung mit der deutschen Kolonialgeschichte sich auf Formen der Gedenkkultur auswirkt – und folglich auch zu Straßenumbenennungen führt.

Das passiert durchaus. So waren in Berlin gleich zwei Straßen nach Hermann von Wissmann (1853–1905) benannt. Wissmann schlug als Reichskommissar mit einer Söldnerarmee den Aufstand der lokalen Bevölkerung in Ostafrika nieder und ermöglichte damit die Kolonialisierung des heutigen Tansania, wo er 1895/96 als Gouverneur amtierte. Seit 2021 (Neukölln) und 2022 (Grunewald) wird er in der Hauptstadt nicht mehr geehrt. In beiden Fällen fiel die Wahl für die neuen Namen auf Personen, in deren Biografien auf unterschiedliche Weise die problematische Geschichte Wissmanns aufgehoben ist. In Neukölln wird mit Lucy Lameck (1934–1993) nun die erste Frau im tansanischen Parlament gewürdigt und die gleiche Kolonialgeschichte damit nicht mehr durch den Täter, sondern aus der Perspektive der Opfer erinnert. In Grunewald trägt die heutige Baraschstraße den Namen eines jüdischen Brüderpaars, das bis zur »Arisierung« 1936 eine gleichnamige Warenhauskette betrieb. Der letzte Berliner Wohnort von Artur (geboren 1872, ermordet 1942 im KZ Auschwitz) und Irene Barasch, die gemeinsam mit den Kindern Else und Werner dem Holocaust durch Flucht aus Deutschland entkam, war das Haus Nr. 11 in der damaligen Wissmannstraße. Dadurch bleibt im neuen Namen der alte aufbewahrt.

Zwei Lösungen auf der Höhe zeitgemäßer Erinnerungspolitik, die auf verschiedene Weise die verbrecherische deutsche Geschichte schon in den neuen Bezeichnungen miterzählen. Die Zähigkeit der Umbenennungsprozesse bei Straßennamen mit kolonialem (und teils auch bei nationalsozialistischem) Bezug, die in den Berliner Fällen erst in der Schlussphase durch Information und Beteiligung der Bevölkerung von den Bezirksämtern umsichtig moderiert wurden, ist dennoch auffällig. Erste Bemühungen, Wissmann die Ehrung durch den Straßennamen zu entziehen, datieren von 2005.

Im Afrikanischen Viertel in Berlin-Wedding geht die Problematisierung noch weiter zurück: Fast fünfunddreißig Jahre dauerte es, ehe die zuständige Bezirksverordnetenversammlung (BVV) 2018 eine Reihe von Umbenennungen beschloss. Künftig soll es eine Anna-Mungunda-Allee /Maji-Maji-Allee geben (zuvor Petersallee), einen Manga-Bell-Platz (zuvor Nachtigalplatz) sowie eine Cornelius-Fredericks-Straße (zuvor Lüderitzstraße); umgesetzt ist der Beschluss allerdings bis heute nicht.

Erinnerungspolitische Beißreflexe

Es gibt in der Straßennamen-Diskussion durchaus bewährte Mittel im Umgang mit problematischen Bezeichnungen, die beim Komplex Kolonialgeschichte nur zögerlich, wenn überhaupt Anwendung finden dürfen. Wenn man sich fragt, warum das so ist, lautet die wenig überraschende Antwort: koloniale Amnesie. Was verdrängt ist, daran soll auch nicht erinnert werden – das lange Ausblenden und Kleinreden der kolonialen Geschichte Deutschlands bedingt, dass die Ausprägung kultureller Formen des Gedenkens verhindert und verzögert wird. Das geschieht durch eine erstaunliche Verunsachlichung der öffentlichen, politisch wie medial geführten Debatte. Beispielhaft dafür sind die Gemeinplätze des Historikers Hanno Hochmuth in einem taz-Artikel von 2019; in dem Text geht es um einen Grünen-Vorschlag in der BVV von Friedrichshain-Kreuzberg zur Umbenennung des sogenannten Generalszugs. »Er halte nicht viel davon, die Maßstäbe von heute retrospektiv auf die Vergangenheit zu legen, sagt er. ›Geschichte hat immer einen Schatten.‹ Die Befreiungskriege seien natürlich militant und aggressiv gewesen, auch der deutsche Nationalismus sei in dieser Zeit entstanden. ›Aber wenn wir anfangen die Geschichte zu säubern in Hinblick auf die heutigen Standards, wüssten wir gar nicht, wo wir aufhören sollten.‹«

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