Heft 887, April 2023

Erinnerungspolitik und Menschenrechte

von Benno Zabel

Das Gedächtnis schmerzt wie die erfrorene Hand beim ersten kalten Wind.

Warlam Schalamow1

Die imperiale Gewalt der westlichen Moderne und die verdrängten Leidensgeschichten

Kollektives Erinnern ist zu einem politischen Topos geworden.2 Es durchdringt die Gegenwart als ein Akt der Selbstvergewisserung, des Heimisch-werdens in der eigenen Geschichte. Es ist eingebettet in dynamische Lebenswelten, gesellschaftliche Identitätskonstruktionen und Aushandlungsprozesse – wer können, wer wollen wir sein? –, die nur selten ohne Konflikte ablaufen. Das beginnt bei Deutungen von Inhumanitätserfahrungen und kulturellem Gedächtnis, setzt sich fort in der Frage, wie und von wem eine Geschichte erzählt wird, und mündet in das Ringen um Anerkennung von Verletzlichkeit. Erinnern ist deshalb immer auch Erinnerungspolitik.

Was das heißt, können wir am gegenwärtigen Ausbruch »neototalitärer Gewalt« in der Ukraine beobachten.3 Denn mit dem seit einem Jahr andauernden Krieg versucht Russland in zweifacher Hinsicht die Deutungshoheit über Geschichte und Erinnern zu erlangen: So wird der militärische Angriff eingebettet in ein imperiales Narrativ, das die Ukraine als abtrünniges Brudervolk charakterisiert, das man mit der Aggression auch an die gemeinsame Geschichte und die gemeinsame Zukunft »erinnern« und von einer korrupten politischen Elite befreien will. Die Deutungshoheit betrifft aber zugleich die unermesslichen Verheerungen des Krieges, die nicht etwa als Akt der Aggression, sondern als legitime Antwort auf die Abtrünnigkeit der Ukraine dargestellt werden. Verbunden ist damit nicht nur eine Opfervertauschung – Russland allein ist das Opfer eines westlichen Imperialismus, zu dessen Büttel sich die Ukraine gemacht hat –, sondern auch die Kolonisierung der Leidensgeschichte. Was wir hier hautnah erleben ist, in den Worten Albert Memmis, die »Exilierung der Einheimischen aus ihrer eigenen Geschichte«.4

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