Heft 897, Februar 2024

Eskalationsspirale in Nahost

Eine konfliktsoziologische Perspektive von Stefan Hirschauer

Seit dem 7. Oktober 2023 erlebt die internationale Öffentlichkeit mit der neuen Eskalation im Nahen Osten auch eine konflikthafte Spaltungsdynamik – nicht nur im Nahen Osten selbst, auch auf den Straßen und in den Deutungskämpfen in anderen Weltregionen. Eine Sache kluger Politik ist es, diese Dynamik zu dämpfen und sich ihrer Ursachen anzunehmen, eine Sache sozialwissenschaftlicher Analyse, sie durch einen distanzierten Blick von der Seitenlinie zu verstehen. Zu den intellektuellen Angeboten der Soziologie gehört hier eine Perspektive, die nicht primär nach der Lösung von Konflikten sucht, sondern nach den Bedingungen ihrer Möglichkeit. Was brauchen sie, um zu entstehen, sich zu formieren und zu eskalieren?

So brauchen etwa Meinungskonflikte ein Thema, um das sie sich drehen können, Beziehungskonflikte Vorwürfe, mit denen sich ihre Teilnehmer gegenseitig ein »Anfangen« vorhalten und zum Fortsetzen motivieren können. Bei Machtkonflikten wie dem aktuellen im Nahen Osten treten auch Drohungen, Gewaltakte und Feindbilder hinzu.

Konflikte benötigen außerdem eine besondere Formierung ihrer Parteien, die daran anschließt, wie Gesellschaften ihre Menschen im Alltag differenzieren. Der israelische Soziologe Eviatar Zerubavel identifiziert in diesem Prozess der Humandifferenzierung zwei elementare Akte: ein »Splitting«, eine kategoriale Trennung und Zuordnung (zum Beispiel in arabische und jüdische Bürger) einerseits, und ein damit zugleich vollzogenes »Lumping«, eine Gleichsetzung aller Elemente der unterschiedenen Seiten (zum Beispiel »der Araber« und »der Juden«) andererseits.

Solche Unterscheidungen begleiten jede Erwartungsbildung, den Aufbau von Stereotypen und Beziehungen, jede räumliche Trennung von Bevölkerungsgruppen. Machtkonflikte brauchen, wie im Folgenden dargestellt werden soll, noch mehr Abstandsvergrößerungen. Sie benötigen Zuspitzungen des Splitting und Lumping, sie gewinnen durch menschliche Opfer an Energie, sie werden durch religiöse oder andere ideologische Brennstoffe verstärkt, sie steigern Stereotype zu Feindbildern und profitieren von perspektivischen Verzerrungen der Beteiligten. Kurz: Sie brauchen eine polarisierende Humandifferenzierung.

Zuspitzungen des Splitting

Zunächst eskalieren Konflikte das alltägliche Splitting, indem sie Unterscheidungen, Kontaktvermeidungen und Grenzen als Fronten gestalten. Die Konfliktparteien bemühen sich für klare Frontverläufe um Frontbegradigung, sowohl räumlich (etwa durch Vertreibungen) als auch symbolisch. Die Bereinigung des neutralen Mittelfelds drängt zum einen intermediäre Figuren an den Rand des Geschehens (in Nahost etwa Pazifisten, Regierungskritiker oder arabische Israelis), zum anderen sorgt sie für eine Polarisierung des Publikums. Unbeteiligte Dritte werden zur Parteinahme genötigt, und es ist schwer für sie, sich dem Binarismus des Konflikts (»Auf welcher Seite stehst du?«) zu entziehen.

Versucht haben es im Oktober vor dem Sicherheitsrat etwa António Guterres: »Das Elend der palästinensischen Bevölkerung rechtfertigt nicht die abscheulichen Attacken der Hamas. Und diese rechtfertigen nicht, alle Palästinenser dafür zu bestrafen« oder US-Außenminister Blinken: »Ein Zivilist ist ein Zivilist, ganz unabhängig von seiner oder ihrer Nationalität, von Ethnie, Alter, Geschlecht oder Glauben«. Dazu Israels Außenminister Cohen: »Nach dem 7. Oktober gibt es keinen Platz mehr für ausgewogene Ansätze. Die Hamas muss dem Erdboden gleichgemacht werden«. Die Hamas wiederum bemüht sich explizit um die Stiftung feindseliger Spaltungen, wie sie schon der IS nach dem Attentat auf Charlie Hebdo 2015 proklamierte: eine »Eliminierung der Grauzone«, nämlich der friedlichen Koexistenz von Konfessionen und Säkularen in der westlichen Welt.

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