Europa-Kolumne
Ein Lehrstück in europäischer Solidarität von Martin HöpnerEin Lehrstück in europäischer Solidarität
Die durch den russischen Angriff auf die Ukraine eingeleitete Serie europäischer Gipfel- und Fachministertreffen ist lang und geht weiter. Die meisten der Treffen sind schnell vergessen. Eines davon lohnt die genauere Betrachtung, weil auf ihm eine Konfliktkonstellation sichtbar wurde, die normalerweise unter der Oberfläche des Beobachtbaren verbleibt. Gemeint ist der 26. Juli 2022, an dem der Rat der EU den Gasnotfallplan beschloss. Was da geschah, war eigentümlich: Deutschland, vom russischen Gaslieferstopp schwerer getroffen als alle Nachbarn, trat ungewöhnlicherweise als Bittsteller auf – und erhielt eine schmerzhafte Lektion in europäischer Solidarität.
Deutschland scheitert im Rat
Deutschland wollte die EU-Länder für umfassende Gaseinsparungen in Höhe von 15 Prozent des Gesamtverbrauchs bis Ende März 2023 gewinnen, was 45 Milliarden Kubikmeter Erdgas entspricht. Würden alle ihren Gasverbrauch entsprechend reduzieren, so die Idee, könnten die Länder im Fall von Notlagen füreinander einstehen. Zunächst sollte es freiwillige, an der Zielgröße orientierte Sparpläne geben. Im Fall von Zwangslagen oder ungenügenden Umsetzungen sollte die Kommission dann einen Unions-Alarm aktivieren und Einsparungen administrieren können.
Deutschland scheiterte auf ganzer Linie. Es solle sich, so die unverblümte Antwort, um seine Probleme selbst kümmern. Die letztlich verabschiedete »Verordnung über koordinierte Maßnahmen zur Senkung der Gasnachfrage« unterstellt einen etwaigen Unions-Alarm der qualifizierten Mehrheit im Rat. Die wird niemals zustande kommen. Und auch die Einzelheiten zu den freiwilligen Nachfragesenkungen um 15 Prozent, um die sich – so der Wortlaut des Artikels 3 der Verordnung – alle »nach Kräften bemühen« sollen, haben es in sich. Sie sind um derart viele Qualifizierungen, Ausnahmen und Sonderregeln für einzelne Länder, besondere Konstellationen und Kategorien von Gasverbrauch ergänzt, dass man schon genau überlegen muss, wer zu den Einsparungen in Höhe von 15 Prozent überhaupt noch aufgefordert wird. Für Deutschland war dieses Ergebnis nicht einmal gesichtswahrend. Es war eine schallende Ohrfeige.
Der Widerstand zog sich quer über den Kontinent. Spanien, das seine Energieversorgung schnell diversifiziert und in sechs LNG-Terminals investiert hatte, führte die Opposition gegen Deutschland an, unterstützt von Portugal und Griechenland. Auch Italien, das seine vergleichsweise hohe Abhängigkeit von russischem Gas frühzeitig reduziert hatte, lehnte Einsparungen in Höhe von 15 Prozent des Verbrauchs der letzten Jahre ab. Polen und Ungarn sahen es genauso, stimmten darüber hinaus aber auch der verwässerten Verordnung nicht zu und zweifeln an der Existenz einer passenden europäischen Kompetenznorm. In Nordeuropa bestritt besonders Finnland, das seinen Gasverbrauch in den letzten zehn Jahren bereits halbieren konnte, die Notwendigkeit weiterer Maßnahmen. Vor allem aber konnte Deutschland auch die französischen Nachbarn mit ihren vier LNG-Terminals nicht als Unterstützer gewinnen.
Das deutsche Exportmodell zehrt von der Nachfrage der Partner
Das war ein merkwürdiges Ergebnis. Hatte Deutschland nicht jedes Recht, nun einmal selbst um Solidarität zu bitten? Fungierte es nicht im Tandem mit Frankreich seit langem als vorbildlicher Ideengeber und Motor der europäischen Integration? Hatte es sich nicht im Gegensatz zu vielen anderen stets – gewiss, mit Ausnahmen unter Schröder – an die europäischen Regeln gehalten, sprich: seine Hausaufgaben gemacht? Hatte es sich nicht mit taumelnden Euro-Ländern solidarisch gezeigt und zu diesem Zweck großzügig die eigene Kasse geöffnet, mit den Stützungsmaßnahmen für Griechenland und zuletzt mit dem Aufbaufonds? Die traurige Wahrheit ist: Zwischen Deutschlands Selbst- und Fremdwahrnehmung klafft eine eklatante Lücke. Unsere Nachbarn empfinden Deutschland nicht als europäisch-solidarisches Land. Sie haben Recht.
In der Diktion der Forschung über Wachstumsmodelle ist Deutschland ein Unterbewertungsregime: ein Land, das sich expansiver Finanz- und Lohnpolitik gewöhnlich enthält und entsprechend Inflationszurückhaltung betreibt, sich damit einen vorteilhaften realen Wechselkurs verschafft, über diesen Wettbewerbskanal im Ausland geschaffene Nachfrage absorbiert und die Handelspartner im Ergebnis mit seinen Leistungsbilanzüberschüssen überzieht. Durch die Orientierung auf Exportüberschüsse koppelt Deutschland sich vom säkularen Trend der De-Industrialisierung ab und beschleunigt im Gegenzug die De-Industrialisierung anderer, für die die deutschen Exportüberschüsse Importschwemmen sind. Seit dem Eintritt in den Euro ist der deutsche Industriesektor praktisch nicht mehr geschrumpft, im eklatanten Gegensatz zu allen anderen westlichen Industrieländern.
Wegen seiner Handelsüberschüsse gilt Deutschland als Alptraum der Weltwirtschaft. Was den Deutschen als Ergebnis harter Arbeit und gesunder Sparsamkeit erscheint, empfinden die Nachbarn und Handelspartner als parasitär. Schon lange drängen die europäischen Institutionen auf Wandel der einseitigen Ausrichtung des deutschen Wirtschaftsmodells. Seit 2011, bis einschließlich 2021, liegt der deutsche Leistungsbilanzüberschuss oberhalb jener 6 Prozent, die das makroökonomische Ungleichgewichtsverfahren der EU als exzessiv kennzeichnet. Seit 2014 konstatiert die Europäische Kommission offiziell, Jahr für Jahr, ein makroökonomisches Ungleichgewicht und mahnt Änderungen an, was Deutschland aber regelmäßig ignoriert.
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