Europa-Kolumne
Überdreht: Die Integration durch Recht von Martin HöpnerÜberdreht: Die Integration durch Recht
Nie zuvor stieß man bei der Durchsicht von Tageszeitungen so häufig auf Konflikte um das Europarecht. Wir lesen von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EUGH), die statt Einzelheiten zum Binnenmarkt Kerne mitgliedstaatlicher Souveränität betreffen. Von widerspenstigen mitgliedstaatlichen Regierungen und Höchstgerichten, die sich mit den Urteilen aus Luxemburg nicht abfinden wollen. Von neuen Vertragsverletzungsverfahren und von angedrohten oder tatsächlich verhängten Zwangsgeldern. Spannungen gab es im europäischen Rechtsverbund immer, aber seit einigen Jahren befindet er sich offenbar in Dauerstress.
Das Problem liegt in den Mitgliedstaaten, erklären uns die meisten Kommentare. Längst überwunden geglaubte Nationalismen wittern Morgenluft, wissen sich zu organisieren, nutzen die Gunst der Stunde, und die EU hält im Namen aufgeklärter Werte dagegen. Diese Diagnose hat den Vorzug, die Grenzlinie zwischen Gut und Böse zufriedenstellend zu markieren. Aber sie erzählt nur einen Teil der Geschichte, wahrscheinlich nicht einmal den entscheidenden, und vermag daher nicht zu überzeugen. Sie blendet nämlich die Machtanmaßungen aus, die derzeit auf Grundlage schwindelerregender Auslegungen der europäischen Verträge stattfinden.
Die Europäische Union ist in eine neue Phase der »Integration durch Recht« eingetreten. Gemeint ist die nicht durch politische Übereinkünfte, sondern durch Uminterpretation des Europarechts betriebene und anschließend nach unten durchgesetzte Integrationspolitik. Neu ist diese Form der Integration nicht. Dass der EUGH schon seit den sechziger Jahren als »Motor der Integration« fungiert, ist in der Europa-Forschung quer durch die Disziplinen anerkannt. Zahlreiche Grundsätze des europäischen Rechts, mit denen sich Anweisungen an die Mitgliedstaaten richten lassen, erweisen sich bei genauem Hinsehen als Schöpfungen des EUGH statt als Akte der politischen Delegation von unten nach oben. Gleichwohl gewinnt die »Integration durch Recht« derzeit eine neue Qualität. Die Kommission und der EUGH lesen das Europarecht neu und gelangen auf der Suche nach Befugnissen zur Formulierung von an die Mitgliedstaaten gerichteten Rechtspflichten zu Ergebnissen, die man noch vor wenigen Jahren als abwegig gekennzeichnet hätte.
In der Theorie lässt sich diese Integrationsschraube ewig weiterdrehen, beansprucht der Gerichtshof doch nicht nur das Interpretationsmonopol über die Verträge, sondern auch den unkonditionierten, also bedingungslosen Vorrang des Europarechts gegenüber jeglichem mitgliedstaatlichen Recht einschließlich des Verfassungsrechts. Niemand kann und darf den Gerichtshof korrigieren, und die Mitgliedstaaten sind zum Gehorsam verpflichtet, freie Bahn daher für die »Integration durch Recht« und das ihr eigene Ausmaß an immer neuer Kreativität. Aber das ist nur die Theorie.
In der Praxis sieht es anders aus, denn das europäische Höchstgericht ist darauf angewiesen, dass seine Entscheidungen zur Auslegung der Vertragsbestimmungen und des sekundären Unionsrechts als fundiert statt willkürlich und gerecht statt parteiisch, kurz: als legitim empfunden werden. Im Ergebnis entsteht ein Spannungsfeld zwischen dem Ausmaß an kreativ-parteiischer Nutzung des europarechtlichen Interpretationsmonopols einerseits und der Legitimitätszufuhr vonseiten der mitgliedstaatlichen Politik und des nationalen Verfassungsrechts andererseits.
Bis in das vergangene Jahrzehnt hinein erzeugten die Schübe der »Integration durch Recht« bei den Adressaten zwar periodisches Murren, aber keine aus supranationaler Sicht bedenklichen Verweigerungen zugeschriebener Legitimität. Der neue Stress im europäischen Rechtssystem legt nahe, dass diese Phase zu Ende geht. Die »Integration durch Recht« könnte das akzeptable Maß überschritten haben. Das ist der andere, in der Regel verschwiegene Teil der Geschichte.
Freizügigkeit schlägt Familienrecht
Das Familienrecht gilt als besonders integrationsresistentes Politikfeld. Der Unionsgesetzgeber verfügt hier über keine Kompetenz zur Harmonisierung. Auch bei der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen mit besonderem grenzüberschreitenden Bezug ist das Familienrecht vom ordentlichen Gesetzgebungsverfahren ausgenommen und der Einstimmigkeit im Rat unterstellt. Aufgrund des starken Bezugs zu den gewachsenen Überzeugungen und Wertvorstellungen, die in jeweils eigenen historischen Traditionen und Erfahrungen wurzeln, kennzeichnete das Bundesverfassungsgericht das Familienrecht in seinem Lissabon-Urteil von 2009 als Bereich, in dem die in der Europäischen Union vertretenen politischen Gemeinschaften die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben müssen. In normalem Deutsch: Die in der EU vertretenen Länder, so Karlsruhe, müssen ihr Familienrecht selbst regeln können. Jedenfalls solange die EU kein Bundesstaat ist.
Zum Familienrecht gehört auch die Anerkennung von Regenbogenfamilien. Man mag bedauern, dass die osteuropäischen Länder hinsichtlich der hier maßgeblichen Überzeugungen und Wertvorstellungen ungefähr auf dem deutschen Stand der achtziger Jahre sind. Ob sich wünschenswerter Wertewandel von außen aufoktroyieren lässt und ob das zu den legitimen Missionen des europäischen Richterrechts gehören kann und darf, ist eine andere Frage.
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