Feinde des Volkes und Nomenklatur – die Untoten der UdSSR
von Alexander BlankenagelIm Jahr 2005 bezeichnete Putin den Zusammenbruch der UdSSR als die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Aber die UdSSR ist nicht wirklich untergegangen; ihre Untoten leben weiter. Unter Stalin galt, wer auch immer in der Sowjetunion gerade bekämpft, verfolgt oder hingerichtet wurde, als »Feind des Volkes«. Diejenigen Volksfeinde, die ihre Strafe in den Lagern überlebt und abgesessen hatten, erwartete nach ihrer Freilassung eine Fortsetzung der staatlichen Diskriminierung bei der Wahl des Wohnortes, dem Zugang zu einer Wohnung, dem Finden eines Arbeitsplatzes sowie dem Zugang zu Bildung und Kultur. Man mied den Kontakt mit ihnen, sei es aus Angst vor staatlichen Repressionen, sei es aus politischer Überzeugung. Selbst nach ihrer Rückkehr in die Gesellschaft waren die Feinde des Volkes quasi Unberührbare, weshalb viele nach Verbüßung der Lagerhaft lieber gleich dort blieben, wo sie inhaftiert gewesen waren: In der Stadt Kolyma etwa, der weißen Hölle, wohnten vor allem ehemalige Lagerhäftlinge.
Auch im heutigen Russland gibt es Feinde des Volkes: die ausländischen Agenten. Als Wladimir Putin 2012 seine Rückkehr auf den Präsidentenposten vorbereitete, waren erhebliche Teile der Bevölkerung damit nicht einverstanden. In Moskau, Sankt Petersburg und anderen größeren Städten gab es regelrechte Massendemonstrationen. Da aber nicht sein konnte, was nicht sein durfte, mussten diese Demonstrationen vom Ausland organisiert worden sein, genauer gesagt vom CIA und seinen willigen Helfern. Das war die Geburtsstunde des Gesetzes, das Mitarbeitern von NGOs, die zum Teil oder ganz durch ausländische Geldgeber finanziert wurden und sich politisch betätigten, den Status »ausländischer Agenten« zusprach, der bei der Veröffentlichung und Verbreitung von Materialien der jeweiligen Organisation ausdrücklich offengelegt werden musste.
Von heute aus betrachtet war das eine zwar unangenehme, aber immerhin die Vereinigungsfreiheit noch nicht allzu sehr einschränkende Regelung. Seit Juli 2022 gibt es hingegen ein deutlich schärferes Gesetz zur »Kontrolle der Tätigkeit von Personen, die sich unter ausländischem Einfluss befinden«. Als ausländische Agenten registriert werden können jetzt unabhängig von der Staatsangehörigkeit natürliche Personen sowie rechtsfähige und nicht rechtsfähige Organisationen jeder Art und sonstige personale Zusammenschlüsse, also Massenmedien, nichtstaatliche wissenschaftliche Organisationen oder etwa auch kommerzielle Organisationen wie das einzige unabhängige Meinungsforschungsinstitut »Levada«, das im Rahmen seiner empirischen Arbeit naturgemäß nicht nur systemkonforme Befunde erhebt.
Völlig unbestimmt ist dabei, was unter ausländischem Einfluss zu verstehen ist, ebenso unbestimmt sind auch die in Artikel 4 des Gesetzes geregelten Tätigkeiten, bei denen der Status des ausländischen Agenten offengelegt werden muss. Wenn das dafür zuständige Justizministerium also jemanden aus welchen Gründen auch immer zum ausländischen Agenten erklären möchte, lässt sich das sehr einfach bewerkstelligen. Die Registrierung als ausländischer Agent kann man zwar gerichtlich anfechten. Gegen die ohnehin wenigen erfolgreichen Klagen hat das Justizministeriums bislang aber in aller Regel seinerseits erfolgreich Einspruch eingelegt. Öffentliche Kritik an dem Gesetz gibt es nicht: Die Medien berichten über dessen Anwendung so, als handele es sich um Wettermeldungen.
Für die Betroffenen – Individuen oder auch Organisationen – bedeutet die Registrierung als ausländischer Agent, soweit sie in Russland leben beziehungsweise ihren Sitz haben und dort tätig sind, zunächst wegen der ständigen Hinweispflicht erhebliche Mühe und zugleich soziale Stigmatisierung. In der Konsequenz brechen die sozialen und beruflichen Netzwerke zusammen. Überdies entstehen mit der Registrierung für die Organisationen bürokratische Lasten – beispielsweise die drastische Vervielfachung und Intensivierung der steuerlichen und sonstigen Überprüfungen –, was ihre Tätigkeit ungemein erschwert. Die Nichterfüllung der besonderen Transparenzpflichten ist als Ordnungswidrigkeit und im Falle einer zweifachen Wiederholung als Straftat sanktioniert. Eine strafrechtliche Verfolgung aus diesem Grund ist nicht selten und stört sich nicht am Fehlen einer realistischen Chance der Durchsetzung: Viele der Betroffenen leben mittlerweile im Ausland. Der Status des ausländischen Agenten scheint dabei Ewigkeitscharakter zu haben. Gegen den Systemkritiker Ilya Jaschin, der Anfang August 2024 im Rahmen eines großen Häftlingsaustauschs in den Westen kam und jetzt in Berlin lebt, wurde im Januar 2025 in Moskau ein neues Strafverfahren wegen Nichterfüllung der Transparenzpflichten eines ausländischen Agenten eingeleitet.
Der Duma (und den hinter ihr stehenden Institutionen) hat aber auch diese Neuregelung im Jahr 2022 noch nicht gereicht. Sie hat das Gesetz in der Folge mehrfach nachgeschärft. In Veröffentlichungen von Organisationen, die zu ausländischen Agenten erklärt worden sind, darf nun keine Werbung mehr platziert werden, was die Möglichkeit der Finanzierung der Organisationen (und der hinter ihnen stehenden natürlichen Personen) stark einschränkt; nach einer Meldung der Zeitung Vedomosti vom Februar 2025 ist das Werbeaufkommen mittlerweile praktisch auf Null gesunken.
Gedreht wurde auch an der Wahlgesetzgebung. Eine Änderung vom Sommer 2024 entzieht ausländischen Agenten das passive Wahlrecht. Selbst Abgeordnete der Duma, der Parlamente der Gliedstaaten sowie der munizipalen Vertretungskörperschaften und auch die Mitglieder des Föderationsrates, der neuerdings Senat genannt wird, verlieren ihre Mandate beziehungsweise die Mitgliedschaft, wenn sie zu ausländischen Agenten erklärt werden. Das ist, zugegeben, sehr praktisch: Jetzt muss man nicht mehr mühsam die Unterschriftenlisten der Kandidaten mit graphologischen Gutachten (so geschehen bei der Moskauer Regionalwahl 2019) auf »Fälschungen« durchforsten, sondern kann dem Justizministerium, das das Register der ausländischen Agenten führt, eine kleine Anregung geben, wen man gerne von den Kandidatenlisten gestrichen hätte; das Gleiche gilt für missliebige Mandatsinhaber in Vertretungskörperschaften.
Der Newsletter der Kulturzeitschrift MERKUR erscheint einmal im Monat mit Informationen rund um das Heft, Gratis-Texten und Veranstaltungshinweisen.