Heft 881, Oktober 2022

Für Interpretation

von Jonas Grethlein

»In place of a hermeneutics we need an erotics of art.« Mit dieser Forderung schloss Susan Sontag 1964 ihren Essay Against Interpretation. Seit Platon und Aristoteles hätten sich Ästhetik, Kunst- und Literaturkritik auf die Inhalte konzentriert und vor allem versucht, in Texten und Kunstwerken tiefere Bedeutungen zu ergründen. So befreiend Interpretation in anderen Kulturen sein könne, in der Gegenwart sei sie »reactionary, impertinent, cowardly, stifling«. Statt um Inhalte sollten sich Kritiker um die Form kümmern und vor allem ihre Sinne wiederentdecken: »We must learn to see more, to hear more, to feel more.«

Heute liest sich Sontags Essay wie die verfrühte Programmschrift einer Bewegung, die in den Literaturwissenschaften seit einigen Jahren viel Aufmerksamkeit findet – eine Bewegung, die Seismograf einer umfassenderen und problematischen gesellschaftspolitischen Dynamik ist: des »Rausches der Gewissheiten«.1 Den Status eines einschlägigen Theorieklassikers hat bereits jetzt ein Sonderheft der Zeitschrift Representations mit dem Titel Surface Reading erlangt.2 In der Einleitung kritisieren Stephen Best und Sharon Marcus das »symptomatische Lesen«, die Tendenz, die eigentliche Bedeutung von Texten als in ihnen versteckt und deren Bergung als die Hauptaufgabe von Literaturwissenschaftlern und -kritikern anzusehen. Als Gegenmittel empfehlen sie, an der Oberfläche zu verweilen und sich mit dem Transparenten, nicht der Interpretation Bedürftigen zu beschäftigen.

Mit besonderer Schlagkraft hat Rita Felski, lange Zeit Herausgeberin von New Literary History, den Angriff auf die Interpretation fortgeführt.3 Sie versucht zu demonstrieren, wie die Hermeneutik des Verdachts, die Paul Ricœur neben Sigmund Freud auch Karl Marx und Friedrich Nietzsche attestierte,4 zur Grundlage der »critique« wurde. So wie Freud aus Träumen und zentralen Texten der westlichen Tradition die Konflikte des Bewusstseins herausschälte, versuchte Nietzsche den Willen zur Macht und Marx den Klassenkampf als die Tiefenstruktur gesellschaftlicher Entwicklungen und der sie widerspiegelnden Texte zu erweisen.

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