Heft 843, August 2019

Platon in Therapie

von Jonas Grethlein

Platon ist »der größte Kunstfeind, den Europa bisher hervorgebracht hat«. Nietzsches Verdikt aus der Genealogie der Moral ist zu einer Formel für die ebenso vehemente wie allgemeine Ablehnung von Platons Dichterkritik in der Politeia geworden. Man hat Platon eines »empörenden Angriffs auf Dichtung«, einer »systematischen Vergewaltigung der Kunst« und des Versuchs bezichtigt, »Kunst in ein puritanisches Anhängsel einer autoritären Politik oder absolutistischen Metaphysik zu verwandeln».1 In seiner Ästhetischen Theorie attestierte Adorno ihm »eine banausische Blindheit gegenüber der Idee der Form, die zentral für Kunst ist«. Neben der Zensur, die Sokrates und seine Gesprächspartner der Literatur im Idealstaat verordnen, wirkt Stalins Kulturpolitik geradezu liberal. Fast die gesamte griechische Dichtung, neben dem Epos auch das Drama und große Teile der Lyrik, fällt der platonischen Kritik zum Opfer. Geduldet ist nur Literatur, die im Einklang mit einem metaphysischen Wahrheitsverständnis die Werte eines totalitären Staats propagiert. Die weitgehende Verbannung der Dichter aus dem Idealstaat ist ein wichtiger Grund für den prominenten Platz, den Popper Platon unter den Feinden der offenen Gesellschaft gab.

Die Ethik der Politeia wird für die meisten heutigen Leser inakzeptabel bleiben – nicht nur Liberale dürfte die Idee einer Standesgesellschaft mit eugenetischem Programm ebenso abschrecken wie die Unterdrückung von Emotionen, die von den Bürgern gefordert wird. Peter Sloterdijks Anleihen bei Platon in Regeln für den Menschenpark (1999) etwa lösten weitflächig Empörung im deutschsprachigen Feuilleton aus.2 Aber die Ästhetik der Politeia ist nicht nur differenzierter, als allgemein angenommen wird, sondern hat wider den Anschein auch heute noch einen systematischen Wert. Im Licht kognitionswissenschaftlicher Ansätze betrachtet, erweist sich Platons Theorie der Mimesis als reich an Einsichten, die in der Ästhetik und Literaturtheorie lange Zeit ignoriert wurden. Man hat versucht, Platon von den gegen ihn erhobenen Anschuldigungen zu entlasten, indem man seinen Idealstaat als ein theoretisches Konstrukt betrachtete, das bewusst fernab von jeglicher Realität angesiedelt ist. Aber es ist gerade die Praxis, die auf verblüffende Weise Platons Verständnis ästhetischer Erfahrung bestätigt. Ein wichtiger Trend in der gegenwärtigen Psychotherapie beruht – ohne ein Bewusstsein dieser intellektuellen Genealogie – auf ganz ähnlichen Annahmen zur kognitiven Dynamik und ethischen Bedeutung ästhetischer Erfahrung. Die Ästhetik »des größten Kunstfeinds, den Europa bisher hervorgebracht hat«, hat sich, so könnte man sagen, in Therapie begeben und wird dort gerade rehabilitiert.

Werfen wir zuerst einen kurzen Blick auf die beiden Diskussionen über die Dichtung in der Politeia: Sokrates beginnt seinen Staatsentwurf mit der Erziehung der Wächter. Seine Erörterung der Dichtung als pädagogisches Instrument am Ende des zweiten und zu Beginn des dritten Buchs mündet in die Forderung nach einer allgemeinen Zensur: Dichter dürften Götter nur als gut und verantwortlich für Gutes darstellen, aber keinesfalls im Streit miteinander oder bei der Täuschung von Menschen. Die Unterwelt sei nicht als dunkler Ort zu beschreiben, da dies den Bürgern die Bereitschaft nähme, sich für den Staat zu opfern. Um die Selbstbeherrschung der Wächter zu stärken, müssten sowohl heroische als auch göttliche Figuren Trauer, Lust und Lachen kontrollieren. Auch wer die griechische Literatur vor Platon gut kennt, wird Schwierigkeiten haben, Texte zu finden, die diese Zensur überleben und ein Existenzrecht im Idealstaat genießen.

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