Heft 908, Januar 2025

Fusse Höll

von Andreas Nentwich

Die Wiesbadener Urgroßeltern hatten ihre Tochter, die 1929 die Mutter der Mutter werden sollte, unter Stand in eine Lehre als Fleischereiverkäuferin aufs Land gegeben – der Urgroßvater war Gaswerksinspektor. Das Land sollte ihr schönes Kind daran hindern, aufs Neue an Männer zu geraten. Auf dem Land aber geriet es sofort an einen Mann, einen Kerl, der nur Arbeiter war und auch sonst nicht viel taugte. So hatte er, der Sohn, es von ihr gehört: von seiner Mutter, die das älteste Kind und die einzige Tochter dieser schönen Tochter der Urgroßeltern und des Arbeiters war.

Zwei Brüder folgten der Mutter 1931 und 1934. Der ältere wurde Bäcker, der jüngere Polizist. Der Bäcker war nah an der schlagenden Hand gebaut, großzügig, furzend im Zigarrennebel, versessen auf Boxkämpfe, ein Homophober im Rausch der schwitzenden Männerkörper. Mit Mitte fünfzig hatte er einen Herzinfarkt, an dem er starb. Der Polizist dagegen: hübsch auf den gezackten Schwarzweißfotos, lässiger Schwarzmarkt-Boy, geschmeidig wie die Amis, begabtes Kind der leichten Musen, mit Schifferklavier und Hammond-Orgel auf vielen Hochzeiten, bald naturgemäß alkoholkrank, mit Anfang sechzig starb auch er den »Herztod«.

Der Sohn stellte zu seiner Überraschung fest, dass die Mutter beide Brüder geliebt hatte, den älteren sehr. Die Mutter selbst: als Halbwüchsige Erzieherin der Brüder und Pflegerin ihrer schönen Mutter, die in noch viel jüngeren Jahren erkrankte, viel schneller verfiel und starb als später sie selbst. Der Arbeiter ging fremd. Die Kranke schickte die Mutter noch 1938 zu den Juden, Matzen zu kaufen. Nie schrieb sie »Heil Hitler« unter einen Brief. Das nährte den Stolz der Mutter. Dass der fremdgehende Arbeiter, später Betreiber von Bierkneipen in verbuckelten Fachwerkhütten, sie geschlagen hatte, als sie schon achtzehn war und zu spät von einem Tanz nach Hause kam, verzieh sie ihm nicht. Die Mutter.

Aus ihren Tagebüchern

1. Juni 1981: Bin sehr krank. Heilpraktiker T. erkennt eine Muskelerkrankung vom Kopf ausgehend.

Das letzte Kapitel

Als die Mutter 2004 im Alter von fünfundsiebzig Jahren starb, waren fast hundert am Grab. Es hieß: eine Erlösung. Ein Vierteljahrhundert krank, zehn Jahre ein Pflegefall, vom Vater gepflegt. Sie war ein Mädchen von hier, eine hart arbeitende Geschäftsfrau, größere Komplimente gab es nicht. Die Leute, die die Mutter vielleicht verstanden hatten, waren lange tot. Den Sohn hatten seit seiner Jugend Stimmen begleitet, die sagten: »Sei froh, dass du deinen Vater hast, sonst wärst du verrückt« und ähnliches, bis er es glaubte.

Aus ihren Tagebüchern

April 1978: drei Wochen Krankenhaus. Es war schön, dass so viele sich um mich Sorgen gemacht haben. Mein Zimmer wurde das Blumenzimmer genannt.

Entsagung

Armer Leute Kind aus »Fusse Höll«. Das war keine gute Ecke – aber bedeutete immerhin noch: von hier und evangelisch. Ein Wunder verhalf der Mutter auf die Lehrerinnenbildungsanstalt im fernen Taunus, doch dann endete der Krieg, die Mutter der Mutter wurde zum Pflegefall, alle Träume waren geplatzt. So erzählte sie es, ohne weitere Details, nach denen zu fragen dem Sohn erst einfiel, als sie dement war. Sie ging als Ungelernte in die Fabrik, betreute abends die Kranke und heiratete mit achtundzwanzig einen Bäckergesellen, einen katholischen Flüchtling aus dem Sudetenland. Sie paukte mit ihm, damit er die Meisterprüfung machte. Sie zog mit ihm in die ungeliebte Nachbarstadt. Frühmorgens um vier in die Backstube, winzig der Laden, eng die Wohnung. Bis sie nach zehn Jahren beschlossen, ein großes, altes Geschäft zu übernehmen in ihrer Heimatstadt, ein Haus zu kaufen, eine Sicherheit für den Sohn. Das Mädchen aus »Fusse Höll« kam zurück mit ihrem Flüchtling, stolz und kränkbar. Der Sohn erkannte spät: Sie liebte den Vater. Bis zu ihrem Ende. Sie liebte ihn umso eifersüchtiger, je kranker sie wurde. Er war ihr »Schatz«, fleißig, gutherzig und verlässlich. Wie eine Löwin hätte sie ihn jederzeit verteidigt, dieser Eigenschaften wegen.

Dass sie an seiner Seite nicht das Leben führte, zu dem sie sich berufen glaubte, zahlte sie ihm heim. Ein Freund des Sohnes sagte, sie habe kein Problem damit gehabt, den Vater ihre Überlegenheit spüren zu lassen und dabei andere zu Zeugen zu machen. Andere haben es ähnlich ausgedrückt. Ihr Projekt war der Sohn. Als der Sohn aufs Gymnasium gekommen war und die Richtung der Bücher einschlug, schloss sie einen Pakt mit ihm. Sie hörten Bach-Passionen in der Stadtkirche, sahen Tourneetheater mit Stücken von Dürrenmatt, Arthur Miller, Tennessee Williams und Eugene O’Neill in der Turnhalle des Gymnasiums, hörten greise Chopin-Spieler im Evangelischen Gemeindehaus, lasen Bücher, die der Sohn vorschlug, besichtigten gotische Städte.

Aus ihren Tagebüchern

26. Juni 1981: Fahrt nach Regensburg. Die Tage dort waren schön und anstrengend. 26. Juni mit dem Jungen in der Oper. Der Mond (Carl Orff). Wunderbar.

Lebensfreude

Als junge Frau tanzte sie gern. Auch war sie eine gute Schwimmerin. Sie schwamm dann nicht mehr, weil der Vater nicht schwimmen konnte. Als sie schon krank war und nur noch durch Nahrungsverweigerung und Wegdrehen des Kopfes ihre Missbilligung kundtat, quälte sie, so schien es dem Sohn, nichts so sehr wie die falsche Volksmusik aus dem Radio, Soundtrack ihrer Entmündigung.

Aus ihren Tagebüchern

Ein Vertreter, Herr K.: Sie und Ihr Mann versuchen, alles hundertfünfzigprozentig zu machen, und gehen dabei vor die Hunde.

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