Heft 867, August 2021

Gedenkorte der Demokratie – Denkorte der Demokraten

Eine Erwiderung auf Philipp Oswalt von Herfried Münkler

Eine Erwiderung auf Philipp Oswalt

Symbolpolitische Askese

Ihrem Selbstverständnis nach war die alte Bundesrepublik ein symbol- und mythenarmer Staat. Der Grund für die erinnerungspolitische Askese lag im selbstgewählten Provisoriums-Charakter der Republik, ihrer politischen Vorläufigkeit unter den Bedingungen des sich 1949 bereits deutlich abzeichnenden Kalten Krieges und der damit verbundenen deutschen Teilung. Das selbstverordnete Provisorische zeigte sich unter anderem auch in der Wahl Bonns als Regierungssitz, die kaum nur deswegen erfolgte, weil, wie die Legende will, Adenauer in Rhöndorf nahe Bonn ein Haus hatte.

Hätte man sich damals, wie von vielen erwartet, für Frankfurt entschieden, den Ort der Nationalversammlung von 1848/49, aber auch der Kaiserwahlen im Alten Reich, wäre das ein politisches Statement gewesen: eine politische Neugründung in der Tradition des »dritten Deutschland«, wie es sich in den Nationalstaatsdebatten des 19. Jahrhunderts gegen Wien und Berlin, vor allem gegen die dort regierenden Habsburger und Hohenzollern, positioniert hatte.

Frankfurt als Hauptstadt wäre kein Provisorium gewesen, sondern ein Neuanfang, politisches und geschäftliches Zentrum eines Westdeutschland, das sich in den liberalen und republikanischen Traditionen der deutschen Geschichte verankert hätte. Wenn es unter diesen Umständen überhaupt zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten gekommen wäre, dann kaum mit Berlin als Hauptstadt. Regierungssitz wäre Frankfurt geblieben. Die Stadt hätte nicht nur die längere Tradition, sondern auch die republikanische Identität auf ihrer Seite gehabt.

Das gedankliche Durchspielen einer alternativen Gründungsgeschichte der Bundesrepublik zeigt, welche Bedeutung Symbole und Erzählungen, Traditionsstiftungen und Erinnerungsabbrüche für die Geschichte eines politischen Gemeinwesens haben – zumindest haben können. Die Bonner Republik jedenfalls hat, um die Tür zu einer (Wieder)Vereinigung mit dem für vierzig Jahre politisch eigene Wege gehenden Osten offenzuhalten, weitgehend auf eine gedenkpolitische Ausstaffierung verzichtet. Sie hat sich symbolpolitisch ärmer gemacht, als von der Sachlage her erforderlich war.

In der Folge haben sich freilich Zivilgesellschaft und Markt ihre eigenen identitätsverbürgenden Symbole und Mythen geschaffen – vom Gewinn der Fußballweltmeisterschaft 1954 im Berner Wankdorf-Stadion bis zur D-Mark, zum Volkswagen oder zum Mercedes-Stern als Zeichen des Wirtschaftswunders. Und dazu natürlich die stolze Selbstetikettierung als Exportweltmeister.1

Überhaupt das Wirtschaftswunder: Es bildete die Legitimations- und Orientierungserzählung der Westdeutschen, es stand für das Ankommen im Westen und für die Unterschiede gegenüber dem Osten. Beides wurde zum tragenden Fundament der westdeutschen Demokratie; sobald die Frage im Raum stand, warum Bonn das Schicksal von Weimar erspart geblieben sei, wurde das Wirtschaftswunder der 1950er Jahre gegen die Inflation von 1923 und die Weltwirtschaftskrise von 1929 aufgerufen. Damit verbunden stand freilich immer die besorgte Frage im Raum, ob und, wenn ja, in welchem Maß der demokratische Rechtsstaat von der wirtschaftlichen Prosperität der Gesellschaft abhängig war.

Diese Sorge ist bis heute geblieben, denn schließlich gibt es auffällige Korrelationen zwischen wirtschaftlichen Krisen, steigender Arbeitslosigkeit und dem Erstarken von Parteien mit extremistischer Ausrichtung. Zugestanden: Eine im Zerfall begriffene Demokratie lässt sich kaum mit Gedenkorten und geschichtspolitischen Manövern retten. Doch dazu, dass es zum Zerfall erst gar nicht kommt, können beide sehr wohl das Ihre beitragen. Wirtschaftliche Konjunkturen bedienen materielle Interessen, Gedenk- und Erinnerungsorte dienen der inneren Bindung an ein großes politisches Projekt.

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