Populismus, Demokratismus, Cäsarismus
Die Herausforderung der liberalen Demokratie von Herfried MünklerDie Herausforderung der liberalen Demokratie
Die Zeit des Triumphs war kurz. Mit dem Zusammenbruch der Regime des realexistierenden Sozialismus hatte es für einen welthistorischen Wimpernschlag den Anschein, es gebe zur liberalen Demokratie westlichen Zuschnitts keine Alternative mehr, und dieses Modell politischer Ordnung werde sich – vielleicht nicht sogleich, aber doch im Verlauf der nächsten zwei, drei Jahrzehnte – weltweit durchsetzen. In den ehemaligen europäischen Satellitenstaaten der zerfallenen Sowjetunion war das seit 1990 bereits der Fall. Russland schien auf einem – zugegeben – holprigen Weg dorthin, und auch im Fall Chinas vertraute man trotz des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens darauf, dass es mit der Zeit immer mehr Elemente des demokratischen Rechtsstaats in seine politische Ordnung aufnehmen werde. Dafür würden schon die marktwirtschaftlichen Strukturen dort sorgen, glaubte man. Francis Fukuyama rief unter Verweis auf Hegel und Kojève das »Ende der Geschichte« aus, womit er das Verschwinden der großen politischen Alternativen meinte, und auch der zurückhaltendere Samuel Huntington sprach von einer »dritten Welle der Demokratisierung«, die Mitte der 1970er Jahre in Südeuropa begonnen und inzwischen Osteuropa und Lateinamerika erfasst habe. Wer optimistisch war, ging davon aus, dass diese Welle demnächst auch die verbliebenen Räume des Autoritären in Afrika, im Nahen und Mittleren Osten sowie in Südostasien erfassen würde.
Daraus ist nichts geworden, im Gegenteil: Die Welle der Demokratisierung flutet inzwischen zurück, und manche Räume, die schon für den liberal-demokratischen Rechtsstaat gewonnen zu sein schienen, sind wieder verloren worden. China hat sich nur insofern »verwestlicht«, als es inzwischen ein Land mit großen sozialen Gegensätzen ist, wohingegen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit dort nicht die Rede sein kann; Russland und die asiatischen Nachfolgestaaten der einstigen Sowjetunion sind in zutiefst autoritäre Strukturen zurückgefallen oder haben sich, wie die »Stan«-Republiken Zentralasiens, gar nicht erst davon befreit; in Mittel- und Südosteuropa haben rechtspopulistisch-nationalkonservative Regierungen zum Angriff auf Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit angesetzt und sind dabei weit vorangekommen; selbst in Süd- und Westeuropa haben populistische Bewegungen an Bedeutung gewonnen und wollen der mittelosteuropäischen Entwicklung nacheifern. Wäre Donald Trump im Amt bestätigt worden, wäre die Aushöhlung der demokratischen Institutionen auch in den USA weiter vorangetrieben worden – und nur unverbesserliche Optimisten glauben ernsthaft daran, die Gefahr, die von seinen zahlreichen Anhängern ausgeht, sei durch den Wahlsieg von Joseph Biden gebannt. Immerhin: Die rechtspopulistischen Regierungen in der EU können jetzt nicht mehr darauf bauen, aus Washington Rückendeckung zu bekommen.
Wer sich nicht damit begnügen will, in all diesen Fällen stets nur temporäre Krisen von Demokratie und Rechtsstaat zu diagnostizieren, wird um die Einsicht nicht herumkommen, dass dem liberalen Demokratiemodell ein ideologischer Widerpart erwachsen ist, den man ernst nehmen muss. Die »illiberale« oder »souveräne« Demokratie, wie Wladimir Putin und Victor Orbán dieses alternative politische Ordnungsmodell nennen, ist mittlerweile erfolgreich genug, um schlagkräftige internationale Koalitionen zu ermöglichen. »Illiberal demokratisch« in diesem Sinne sind die Türkei unter Erdoğan, die Philippinen unter Duterte, Brasilien unter Bolsonaro und Polen unter Kaczyński, auch wenn die dortigen Akteure die Formel von der illiberalen Demokratie nicht ausdrücklich gebrauchen. Und das sind nur die prominentesten Beispiele. Sie alle begnügen sich nicht damit, Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit zu zerstören sowie die Bürgerrechte einzuschränken. Es geht ihnen letztlich darum, das Prinzip der Gewaltenteilung auszuhebeln, um einen autoritär-willkürlichen Regierungsstil durchzusetzen, der seinen Legitimitätsanspruch auf einen vermeintlichen »Volkswillen« gründet.
Sie treten also nicht in offener Ablehnung gegen die Demokratie an, sondern agieren unter dem Deckmantel der Behauptung, man sei auf dem Weg, die wirkliche, die eigentliche Demokratie zu realisieren, während der liberaldemokratische Rechtsstaat nur die Herrschaft eines oligarchischen Establishments sei. Das ist im Fall der erwähnten autoritären Regime mitunter nur eine Retourkutsche auf den Vorwurf, es handele sich bei ihnen um korrupte Oligarchien. Doch es ist zugleich mehr als bloß ein Element polemischer Rhetorik, seitdem die populistischen Bewegungen in Süd- und Westeuropa sich als Speerspitze des Angriffs auf die liberaldemokratische Ordnung im Namen der sich als »wahr« und »eigentlich« ausgebenden Demokratie positioniert haben. Dieser Populismus, so die im Weiteren verfolgte These, argumentiert demokratistisch und agiert cäsaristisch.
Demokratie als permanent erneuerungsbedürftiges Projekt
Dass der Populismus argumentiere, ist eine Beobachtung, die nicht jeder teilen wird. Über lange Zeit galt die Regel, wer mit Populisten diskutieren wolle, werde beschimpft und angeschrien, so dass es zu einer Auseinandersetzung mit Argumenten gar nicht komme. Mehr noch als für Links- galt das für Rechtspopulisten. Der Populismus war laut, aber ohne Argumente. Er brüllte, aber er sprach nicht. Betrachtet man jüngere populistische Auftritte jenseits von Demonstrationen und Gegendemonstrationen, so trifft man auf eine durchaus argumentationsfähige Szene, in der die Idee der illiberalen Demokratie – sicherlich ein eher rechts- als linkspopulistischer Begriff – eine zentrale Rolle spielt.1 Damit müssen sich die Verteidiger der liberalen Demokratie auseinandersetzen, auch deswegen, weil die Demokratie mehr als jede andere politische Ordnung ein immer wieder erneuerungsbedürftiges Projekt ist, das gerade aus der Auseinandersetzung mit seinen Gegnern und Verächtern neue Kraft bezieht. In dieser Konfrontation können sich die Anhänger der Demokratie der Grundlagen und Voraussetzungen der präferierten Ordnung intellektuell vergewissern und sich diese emotional neu aneignen.
Es gibt indes eine verbreitete Neigung, sich hinter der Verfassung zu verstecken und die Verteidigung der Demokratie dem Verfassungsschutz zu überlassen. Bei anderen politischen Ordnungen mag es ein gangbarer Weg sein, die Maßnahmen für ihren Fortbestand wesentlich einer Behörde und ihrer jeweiligen Arbeitsweise aufzugeben. Im Fall der Demokratie hingegen reicht das nicht aus. Eine Demokratie kann auf Dauer nur bestehen, wenn sich die überwiegende Mehrheit ihrer Bürger mit dieser Ordnung identifiziert und sich in ihr und für sie engagiert. Das macht Demokratien besonders verwundbar, doch aus dem Wissen um diese Verwundbarkeit erwächst zugleich auch eine besondere Stärke. Demokratien sind dadurch nämlich nicht nur erneuerungsbedürftig, sondern auch erneuerungsfähig. Demokratische Ordnungen, die sich selbst als alternativlos imaginieren, befinden sich hingegen in großer Gefahr.
Es sind drei Typen von Gefährdung, deren die Demokratie gewärtig zu sein hat: die durch äußere Feinde; die durch die eigene politische Klasse, die sich an den Schalthebeln der Macht eingerichtet hat und seitdem dazu neigt, ihre eigenen Interessen mit denen des Gemeinwesens zu verwechseln; und schließlich die durch die eigene Bürgerschaft, wenn sich dort die Vorstellung ausgebreitet hat, der politikpartizipatorische Betrieb sei zu anstrengend und zeitaufwändig und man solle die damit verbundenen Aufgaben professionalisieren, damit sich die Bürger aus ihnen zurückziehen könnten.2 Im Allgemeinen wird die Bedrohung von außen am häufigsten thematisiert, da sich hier demokratiespezifische und allgemeinpolitische Szenarien miteinander verbinden. Gegen sie werden aufwändige Vorkehrungen getroffen; schon sehr viel weniger wird über die Gefahr einer schleichenden Oligarchisierung der Demokratie gesprochen, weil man sich durch den Wettbewerb der Parteien bei Wahlen, die parteiinterne Demokratie und eine aufmerksame Öffentlichkeit dagegen geschützt glaubt; und so gut wie nie geht es um das Austrocknen der demokratischen Ordnung durch den Rückzug der Bürger aus den diversen Bereichen des politischen Engagements. Doch genau darin liegt seit einiger Zeit die größte Gefährdung der liberalen Demokratie.
Populistische Bewegungen nehmen für sich in Anspruch, etwas gegen die zweite und dritte Gefährdung zu tun. Ihren Kampf gegen das »Establishment« verstehen sie als Aufklärungsprojekt, durch das die untergründige Oligarchisierung der liberalen Demokratie offengelegt werde. Ihrer Parteiarbeit rechnen sie zu, dass viele Bürger an die Wahlurne zurückgekehrt seien, die sich zuvor resigniert vom politischen Betrieb abgewandt hätten. Und schließlich machen sie geltend, durch regelmäßige Volksabstimmungen, in denen es um grundlegende Entscheidungen gehe, dem Volk wieder größeres Gewicht im demokratischen Prozess verschaffen zu wollen. Überhaupt gehe es darum, das Volk wieder als den eigentlichen Herrn der Demokratie in seine Rechte einzusetzen und dafür zu sorgen, dass nicht länger die Agenten (politische Repräsentanten) den Patron (das Volk) beherrschten. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb Populisten gern als die eigentlichen Verteidiger der Demokratie auftreten.
Auf Anhieb mag das durchaus einleuchtend wirken, bei näherer Prüfung zeigt sich allerdings, dass die Grundfrage, die der einer jeden Demokratie inhärente Erneuerungsbedarf aufwirft, von all dem gar nicht berührt wird: die Frage nämlich, wie bei möglichst vielen Bürgern ein längerfristiges Interesse an politischen Herausforderungen geweckt, eine darauf gegründete Urteilsfähigkeit in politischen Fragen gefördert und diese anschließend in politische Urteilskraft verwandelt werden kann. Das ist schließlich die Grundlage für den Vorrang demokratischer Ordnungen gegenüber allen anderen Herrschaftsformen: dass deutlich mehr Menschen sich am Nachdenken über mögliche Antworten auf Probleme beteiligen, dass sie dabei nicht impulsiv und aus der erstbesten Laune heraus reagieren, sondern sich auf einen zeitaufwändigen Beratungsprozess einlassen und schließlich eine auf der Basis des Mehrheitsprinzips erfolgende Entscheidung treffen und damit für die Folgen der Entscheidung die politische Verantwortung übernehmen.
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