Gesellschaft im Rohzustand
Der Populismus aus Sicht der Massentheorie von Christian GeulenDer Populismus aus Sicht der Massentheorie
Glaubt man aktuellen Zeitdiagnosen, ist das Zeitalter der Massen, wie es am Ende des 19. Jahrhunderts ausgerufen und bis ins späte 20. Jahrhundert vielfach beschrieben wurde, vorüber. An die Stelle der »Masse« sind andere Konzepte des ungeordnet Kollektiven getreten: Netzwerke, multitudes, Bewegungen, 99 Prozent, die Abgehängten, empörte Bürger, gelbe Westen oder schlicht das Volk. Mit der Masse gemein haben diese Kollektive ihre faktische Disparatheit und ihre Weigerung, kategorisierbarer Teil der gesellschaftlichen Ordnung zu sein, also etwa eine bestimmte Schicht oder eine bestimmte Klasse zu repräsentieren. Was sie aber von der bloßen Masse unterscheidet, ist ihr dennoch und umso lauter artikulierter Anspruch auf Teilhabe und Besonderheit.
Laut Andreas Reckwitz leben wir sogar im genauen Gegenteil einer Massengesellschaft, in einer Gesellschaft der Singularitäten: immer auf der verzweifelten Suche nach dem individuell wie kollektiv Authentischen und Besonderen. Dafür spielen nicht zuletzt die neuen Medien eine Rolle, von denen wir aber auch, trotz Millionen von Nutzern, im digitalen Zeitalter nur noch bedingt als Massenmedien sprechen wollen. Und auch politisch ist die Masse zumindest hierzulande kaum mehr ein Grundbegriff, im linken Spektrum schon lange nicht mehr, und im rechten hat man stattdessen den Volksbegriff für sich entdeckt. Von Massen scheint heute allein dort die Rede zu sein, wo sie konkret und als Betroffene auftreten: in Krisen, Kriegen, bei Unglücken, Natur- oder Hungerkatastrophen.
Dennoch wurde das Ende des Zeitalters der Massen bislang von niemandem explizit deklariert. Dafür sind uns die Massenphänomene des 20. Jahrhunderts doch noch zu nah und vertraut. Massenkultur, Massentourismus, Massenmedien, Massenveranstaltungen, Massenproteste, Massenbeeinflussung – all das ist keineswegs verschwunden. Die perfekt auf mein Nutzerprofil abgestimmte individuelle Werbung ist in ihrer millionenfachen Ausführung immer noch Massenwerbung, doch nehmen wir sie als solche nicht mehr wahr. Demonstrationen für oder gegen Einwanderung sind immer noch Massenveranstaltungen, doch fällt es uns schwer, in ihnen die Massenseele oder auch nur die Masse als handelndes Subjekt wahrzunehmen, wenn wir zugleich wissen, dass sich ihre eigentliche Wirkungsmacht erst im medialen Resonanzraum entfaltet. Mit anderen Worten: Es gibt die Massen noch. Doch scheinen sie in einen Zustand der Latenz zurückgefallen zu sein.
Das aber wiederum ist, historisch gesehen, nichts Neues. Die Masse war immer schon ein Begriff des Latenten, des nur Möglichen und Optativen, wie es Reinhart Koselleck einmal ausgedrückt hat. Etymologisch leitet sich der Begriff vom griechischen und lateinischen Wort für Brotteig her, einer Masse also, die immer erst noch in Form gebracht und ausgebacken werden muss. Es ist gerade die Ungeformtheit der Masse, die immer schon auf ihr Potential, auf die Möglichkeit von Formung und Ordnung verweist. In diesem Sinn ließe sich die Masse vielleicht am einfachsten als Gesellschaft im Rohzustand beschreiben; als Untergrund, aus dem eine gesellschaftliche und politische Ordnung der Vielen erwächst, auf dem sie auch nach ihrer Errichtung ruht und der in Krisenzeiten wieder hervorbrechen kann.
Ebenso scheinen viele Formen des heutigen Populismus auf ein eben solches Aufbrechen des rohen, ungeformten Untergrunds unserer gesellschaftlichen und politischen Ordnung zu warten und zu setzen. Wenn kleine Grüppchen »Wir sind das Volk« skandieren, wenn etwas größere eine ordnungsgemäße Wahl zum Betrug erklären und es schaffen, zumindest für einen Tag die parlamentarischen Institutionen einer Supermacht lahmzulegen, oder wenn eine rechtsextreme Partei in Deutschland mit der Frage für sich wirbt, wann denn auch »bei uns« die Macht vom Volk ausgehe – dann rekurrieren diese Strategien keineswegs auf das sogenannte einfache Volk oder angeblich benachteiligte und abgehängte Schichten unseres demokratischen Gemeinwesens, sondern sie beziehen sich auf etwas weit vor, diesseits und unterhalb der demokratischen Gesellschaft, wie sie ist. Woran der Populismus appelliert und was er erwecken, hervorbringen, ermächtigen will, ist nicht ein bestimmter Teil unserer Demokratie, sondern ihr mystischer Untergrund, ihre basale und heilige Legitimationsquelle, der Wille und die Stimme dessen, was er Volk nennt, aber weder mit dem politisch verfassten Volk noch mit dem Volk in der Verfassung identisch ist. Es geht den populistischen Denkweisen um das Volk im vorinstitutionellen Rohzustand, es geht um die zu entfesselnde und zu ermächtigende Kraft des Untergrunds, von der die meisten Populisten tatsächlich glauben, sie könnte eine ganz neue und »wahre« Demokratie hervorbringen.
Die Masse als Rohstoff und Bedrohung: Das 19. Jahrhundert
Die Vorstellung einer Gesellschaft im Rohzustand ihrer institutionellen Ordnung begleitet die moderne Gesellschaft seit ihrer geschichtlichen Herausbildung. Als der Absolutismus begann, seine Herrschaftssubjekte nicht mehr nur als ständisch geordnete Untertanen, sondern als lebende, arbeitende, produzierende und sich reproduzierende Körper, mithin als Bevölkerung wahrzunehmen, die es als den wahren Rohstoff der eigenen Macht zu pflegen und zu nutzen galt, entstand zum ersten Mal die Vorstellung eines solchen Untergrunds der Gesellschaft, den zu entdecken, zu vermessen und in seiner Produktivität zu kontrollieren Aufgabe der frühmodernen Regierungspraktiken war. Wie Foucault, Koselleck und andere gezeigt haben, erzeugte der Absolutismus damit aber zugleich die Denkmöglichkeit einer Gesellschaft jenseits ihrer ständischen Gliederung: die Denkmöglichkeit einer homogenen Gemeinschaft der Beherrschten, die sich dann als »Volk« oder »Nation« auch politisch zu Wort meldete, um sich schließlich in den bürgerlichen Revolutionen zum neuen Souverän zu erklären.
Auch in der weiteren und erst allmählichen Durchsetzung demokratischer Prinzipien gegen die restaurativen Bemühungen der alten Eliten spielte der Verweis auf jene unterste und tragende Schicht der Bevölkerung, des »gemeinen Volkes« oder eben auch der »breiten Masse« immer wieder eine Rolle. Vor allem dort, wo es zu revolutionären Ereignissen und Kämpfen kam, stand die unstrukturierte und ungeordnete, nicht wirklich identifizierbare Masse des Pöbels real wie symbolisch für die chaotische Seite des revolutionären Umbruchs, die einzuhegen und wieder in Ordnung zu überführen im Interesse der alten wie der neuen Eliten lag.
Im Deutschen wurde der Begriff der Masse in diesem Sinn geläufig, als Friedrich von Gentz den von Edmund Burke in seinen Reflections on the Revolution in France gebrauchten Begriff der »crowd« als »Masse« übersetzte. Von hier aus verbreitete er sich rasch vor allem bei denjenigen, die am Beginn des 19. Jahrhunderts mit größter Sorge das Anwachsen jener neuen Massen beobachteten, die von der Industrialisierung hervorgebracht wurden. Selbst wohlmeinende liberale Sozialreformer wie Robert von Mohl beschrieben diese Massen unter Rückgriff auf die Sprache der Ethnografen wie fremde Stämme im tiefsten Innern der eigenen bürgerlichen Gesellschaftsordnung. Und gerade sie warnten vor der Möglichkeit, dass diese Masse eines Tages von unten aus- und hervorbrechen könnte. Wie ein roter Faden zieht sich diese Sorge durch die bürgerliche Gesellschaftsbeobachtung des 19. Jahrhunderts, als Ausdruck der tiefsitzenden Angst davor, die Gesellschaft in ihrem Rohzustand erblicken zu müssen.
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