Gewaltherrschaft und Schoah in der Ukraine
von Franziska DaviesDer Euromajdan von 2013/14, die so genannte »Revolution der Würde«, hatte auch eine geschichtspolitische Dimension. Aktivistinnen und Mitglieder der rechtsextremistischen Partei Swoboda stürzten am 8. Dezember 2013 das zentrale Lenin-Denkmal in Kiew. Dies sollte der Ausgangspunkt für den leninopad sein, die massenhafte Beseitigung von Lenin-Denkmälern im gesamten Land, mit Ausnahme der von Russland kontrollierten Gebiete. Zwar war das kein Novum in der ukrainischen Geschichte, in den 1990er Jahren waren schließlich bereits eine Vielzahl von Lenin-Denkmälern vor allem in der Westukraine abgebaut worden, aber im Zuge des Majdan und des darauffolgenden russischen Angriffs auf die Ukraine machte die neue ukrainische Regierung unter Präsident Petro Poroschenko die Abrechnung mit der Sowjetzeit zur Chefsache.
Im April 2014 brachte sie eine Reihe von Gesetzen zur »Dekommunisierung« des Landes auf den Weg. Anders als es dieser Begriff suggeriert, war damit aber keine kohärente geschichtspolitische Strategie verbunden. So zielte ein Gesetz darauf ab, das Gedenken an den Sieg über den Nationalsozialismus zwischen 1939 (nicht etwa 1941) und 1945 zu »verewigen« und ordnete eine »respektvolle Einstellung gegenüber der Erinnerung« an diesen Sieg an. Denkmäler zur Erinnerung an den »Großen Vaterländischen Krieg« – in den meisten Fällen eben sowjetische – wurden damit unter den Schutz des Staates gestellt. Die Verantwortung für den Ausbruch des Kriegs, »die größte Tragödie der Menschheit im 20. Jahrhundert«, schrieb dasselbe Gesetz allerdings dem nationalsozialistischen Deutschland und dem »kommunistisch totalitären Regime der UDSSR« gleichermaßen zu. Schließlich hätten beide auf dem Territorium der Ukraine Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen und sich des Genozids schuldig gemacht.
Ein anderes Gesetz erklärte es zur öffentlichen Aufgabe, die Erinnerung an die »Kämpfer für die Unabhängigkeit der Ukraine« aufrechtzuerhalten. Mit der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und ihrem militärischen Arm, der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA), bezog es zwei Organisationen ausdrücklich mit ein, die sich beide durch ihren Antisemitismus und Antipolonismus ausgezeichnet und während des Zweiten Weltkriegs mit den Deutschen kooperiert hatten.
Allerdings war die Erinnerungskultur an Krieg und Gewaltherrschaft in der Ukraine schon lange vor den Gesetzen zur »Dekommunisierung« von Widersprüchen geprägt. Sowjetische, postsowjetische, jüdische und nationalukrainische Narrative trafen und treffen dabei häufig konflikthaft aufeinander. Das Ende der Sowjetunion ermöglichte nicht nur eine offenere Auseinandersetzung mit sowjetischen Gewaltverbrechen, auch das jüdische Erbe trat stärker in die Öffentlichkeit.
Kiew: Babyn Jar
Die wohl bekannteste Vernichtungsstätte auf sowjetischem Boden ist die Schlucht von Babyn Jar, heute innerhalb der Grenzen der ukrainischen Hauptstadt gelegen. Die SS und die Führung der Wehrmacht planten den Massenmord gemeinsam, insofern steht Babyn Jar nicht zuletzt für die tragende Rolle der Wehrmacht im deutschen Vernichtungskrieg. Insgesamt wurden in der Schlucht am 29. und 30. September 1941 über 33 000 Juden erschossen und damit fast die gesamte jüdische Gemeinde der Stadt ermordet. Nach dem Ende des Kriegs versuchte die sowjetische Führung durch eine Umgestaltung der Landschaft die Erinnerung an das Massaker an der jüdischen Bevölkerung Kiews auszulöschen. Die spezifisch jüdische Erfahrung des Zweiten Weltkriegs passte nicht in das offizielle Selbstbild des sowjetischen Vielvölkerstaats, demzufolge alle gleichermaßen von der faschistischen Aggression betroffen gewesen seien. Außerdem fügte sich die Schoah nicht in die sowjetischen Erzählungen von Heroismus ein, waren Juden und Jüdinnen doch Opfer gewesen, die den Deutschen hilflos ausgeliefert waren.
Jewgeni Jewtuschenko, einem nichtjüdischen Schriftsteller, ist es maßgeblich zu verdanken, dass die Tat zwei Jahrzehnte später doch wieder ins öffentliche Bewusstsein rückte. Sein Gedicht Babij Jar, 1961 während des so genannten »Tauwetters« publiziert, markiert einen erinnerungskulturellen Wendepunkt: »Über Babij Jar, da steht keinerlei Denkmal. || Ein schroffer Hang – der eine, unbehauene Grabstein […] ein einziger Schrei ohne Stimme || über tausend und aber || tausend Begrabene hin. || Jeder hier erschossene Greis –: || ich. Jedes hier erschossene Kind –: || ich.« Vier Jahre nach der Publikation des Texts fand in Babyn Jar zum fünfundzwanzigsten Jahrestag des Massakers eine große Gedenkveranstaltung statt. Zwar hatten sich bereits in den Jahren zuvor Nachfahren der Opfer an dem Ort eingefunden, diesmal machten sich aber viel mehr Menschen auf den Weg. Bemerkenswert an der Feier war, dass auch ukrainische Intellektuelle und Kunstschaffende daran teilnahmen. Unter anderem hielt Iwan Dsjuba, ukrainischer Literaturwissenschaftler und sowjetischer Dissident, eine Rede, in der er das Fehlen eines Mahnmals anprangerte und die Gemeinsamkeit zwischen dem Judentum und der Ukraine im Kampf um die Erhaltung ihrer Kultur betonte. Zugleich machte er deutlich, dass es auch die Aufgabe der ukrainischen Bevölkerung sei, das Andenken an die Ermordung des Kiewer Judentums zu bewahren. Der Historiker Yohanan Petrovsky-Shtern, dessen Urgroßmutter in Babyn Jar ermordet wurde, hat diese gemeinsame Gedenkveranstaltung jüngst als ein Schlüsselereignis der jüdisch-ukrainischen Beziehungen bezeichnet.
Der wachsende gesellschaftliche Druck führte dazu, dass die sowjetischen Behörden 1976 schließlich doch noch ein Ehrenmal errichten ließen. In der Formensprache des sozialistischen Realismus gehalten, zeigt es einen jungen Mann vor ineinander verschlungenen Körpern. Nichts daran verweist explizit auf die jüdische Identität der Opfer. Selbst die in den 1990er Jahren nachträglich angebrachten Inschriften informieren – auf Russisch, Ukrainisch sowie in (fehlerhaftem) Jiddisch – lediglich darüber, dass hier »zwischen 1941 und 1943 von den deutschen faschistischen Besatzern mehr als hunderttausend Bürger der Stadt Kiew erschossen wurden«. Seit 1991 gibt es in Babyn Jar allerdings ein weiteres, eindeutig jüdisches Denkmal. Es hat die Form einer Menora, deren Arme von Schmerz gezeichnete Gesichter zeigen. Bei seiner Enthüllung war Leonid Kutschma anwesend, damals ranghöchster Politiker der Sowjetukraine und später der erste Präsident der unabhängigen Ukraine. Durch Kutschmas Teilnahme an der Zeremonie wurde das jüdische Leid zum ersten Mal offiziell anerkannt.