Heft 853, Juni 2020

Homo Europus

von Nicholas Mulder

Als die Stadt Trier sich vor die Frage gestellt sah, wer bei dem Festakt für den berühmtesten Sohn der Stadt als Redner auftreten sollte, traf sie eine unerwartete Wahl. Anlässlich des zweihundertsten Geburtstags von Karl Marx im Mai 2018 hielt Jean-Claude Juncker, der damalige Präsident der Europäischen Kommission, den Eröffnungsvortrag. Worüber Marx nachdachte, was ihm vorschwebte, was er uns hinterlassen hat, Schriften wie Das Kapital oder Das kommunistische Manifest, haben die Welt verändert, sagte Juncker. Sein Denken habe zahllose Menschen unterschiedlichster Herkunft und Haltung inspiriert. Juncker ließ keinen Zweifel daran, wie das Verhältnis von Marx, dem Theoretiker des 19. Jahrhunderts, zur politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu deuten sei: »Man muss Marx aus seiner Zeit heraus verstehen«, anstatt vorschnell aufgrund heutiger Gewissheiten über ihn zu urteilen, gab er seinen Zuhörern mit auf den Weg. »Dass einige seiner späteren Jünger die Werte, die er formuliert hat und die Worte, die er zur Beschreibung dieser Werte gefunden hat, als Waffe gegen andere einsetzten, dafür kann man Karl Marx nicht zur Verantwortung ziehen.« Nach dieser behutsamen Inbesitznahme des wohl bedeutendsten revolutionären Denkers der Weltgeschichte wandte sich Juncker der Gegenwart zu. »Die Europäische Union ist kein Fehlkonstrukt«, sagte er, »aber ein wackliges Gebäude. Unter anderem deswegen wacklig, weil die soziale Dimension bis heute das Stiefkind der europäischen Integration ist.« Augenzwinkernd auf die elfte These über Feuerbach anspielend, erklärte Juncker: »Wir müssen das ändern.« In seinem Heimatland Luxemburg gehörte er seit jeher dem linken Flügel der Christlich Sozialen Volkspartei (CSV) an. Doch seitdem seine Amtszeit an der Spitze der EU-Exekutive dem Ende entgegenging, legte er erneut Nachdruck auf die Idee eines »sozialen Europas«.

Junckers später Lobgesang auf Marx steht in einem erstaunlichen Gegensatz zum Werdegang seines Vorgängers in der Kommission. José Manuel Barroso, der ehemalige Premierminister Portugals, hatte als Maoist angefangen und wechselte schließlich in den Aufsichtsrat von Goldman Sachs. Die vierzig Jahre währende Karriere des Luxemburgers verzeichnet keine vergleichbaren Kurswechsel. Beachtliche fünfunddreißig Jahre davon übte Juncker Kabinettsämter aus: zwanzig Jahre als Luxemburger Finanzminister, achtzehn Jahre als Premierminister seines Landes, acht Jahre als Vorsitzender der Euro-Gruppe der Finanzminister und fünf Jahre als Präsident der Kommission. Eine solche Langlebigkeit, nicht ungewöhnlich für zentralasiatische Despoten, ist bemerkenswert in den oberen Rängen von Koalitionsregierungen in einem Mehrparteiensystem. Junckers politische Laufbahn lässt sich als Sinnbild für die Entwicklung der Europäischen Union lesen. Und umgekehrt liefert die eigentümliche Geschichte des Landes, aus dem er stammt, reichlich Anschauungsmaterial dafür, wie europäische Regierungschefs den Veränderungsdruck der neoliberalen Globalisierung für ihre Bürger abzufedern verstanden.

Nimmt man Junckers politisches Handeln genauer in den Blick, ist die Versuchung groß, darin nur die eigene Sichtweise auf die EU bestätigt zu sehen. Die britischen Boulevardzeitungen wollten den Kommissionspräsidenten im kollektiven Brexit-Delirium zum deutschsprechenden Alleinherrscher abstempeln, obwohl Juncker selten autoritär auftritt und lieber Kompromisse schmiedet. Die New York Times bezeichnete ihn als »undurchschaubar«, doch nur wenige europäische Staatsmänner sind so umgänglich wie er und verfügen über einen ähnlich ausgeprägten Sinn für Humor. Für die Nationalisten in ganz Europa verkörpert Juncker jene europäische Hinterzimmerpolitik, die Inkompetenz durch Selbstgefälligkeit kaschiert. Gewiss ist Juncker ein eifriger Händeschüttler mit einer Schwäche für Zigaretten und guten Wein, die traditionellen Schmiermittel für die Seilschaften einer weitgehend männlichen politischen Klasse. Mit seiner stets gutgelaunten, oft flapsigen Art eckt er an und nimmt gleichermaßen für sich ein. Doch hinter dem gelegentlich angeheiterten Possenspiel verbirgt sich ein gestandener politischer Haudegen.

Juncker unsympathisch zu finden ist nicht sonderlich schwer. Seine Stärken hingegen sind weniger augenscheinlich und kommen erst über längere Zeiträume wirklich zum Vorschein. Er behandelt andere mit Entgegenkommen und kann sich bei Verhandlungsmarathons auf eine Ausdauer verlassen, die man wohl nur in Ländern erwirbt, deren politische Kultur auf Kompromissfindung ausgerichtet ist. Nirgendwo in Europa wurde die parlamentarische Politik so lange von Christdemokraten dominiert wie in Luxemburg. Als Sohn eines Stahlarbeiters machte sich Juncker unter dem Eindruck der Krisen der 1970er Jahre daran, die nationale Eigenständigkeit seines Landes in einer globalisierten Weltwirtschaft zu bewahren. Während er es auf europapolitischer Ebene zu beachtlicher Meisterschaft im geschmeidigen intergouvernementalen Politikstil brachte, modernisierte er innenpolitisch den luxemburgischen Wohlfahrtsstaat, indem er das Land zu einem führenden Finanzstandort und einem Steuerparadies für Unternehmen umbaute. Innerhalb der EU beherbergt nur Irland mehr steuervermeidende multinationale Unternehmen. Nur die City of London hat mehr zu bieten in Sachen Schwarzgeldgeschäfte. Luxemburg ist in beiden Bereichen ganz vorne mit dabei. Dieses Freibeuter-Geschäftsmodell verdankt sich dem deregulierten Kapitalismus, der unmittelbar in die Finanzkrise von 2008 mündete. Für die EU wurde der Crash zur Zerreißprobe, das Geschäftsmodell überlebte jedoch unbeschadet. Juncker, ein kinderloser Mann, der sich für wenig außerhalb der Politik begeistern kann, wird seines Handwerks nicht müde. Die joviale Hartnäckigkeit, die er bei internationalen Treffen an den Tag legte, brachte ihm sogar von Trump Respekt ein, der auf dem G7-Gipfel von 2018 in Kanada angeblich zu ihm meinte: »Jean-Claude, du bist ein brutaler Killer.«

Möchten Sie weiterlesen?

Mit dem Digital-Abo erhalten Sie freien Zugang zum gesamten MERKUR, mit allen Texten von 1947 bis heute. Testen Sie 3 Monate Digital-Abo zum Sonderpreis von nur 9,90 Euro.

Jetzt Probelesen