How to Support a Revolution (II)
»Frau, Leben, Freiheit – emanzipatorische Potenziale« von Nacim Ghanbari»Frau, Leben, Freiheit – emanzipatorische Potenziale«
Asphaltboden, vier Menschen. Vom rechten Bildrand bewegen sich zwei Figuren hintereinander Richtung Bildmitte: Frauen im schwarzen Tschador. Die vordere lässt ein bisschen Gesicht erkennen, die hintere ist vollständig umhüllt. Unten links zwei junge Frauen, die lachend in die Kamera, nach oben blicken. Eine der beiden streckt den Arm, zeigt das Victory-Zeichen. Zugewandt, freundschaftlich nebeneinander schreitend, farbig und hell gekleidet, ohne Kopfbedeckung: Diese beiden stehen für die Iranerinnen, die nach dem Tod Jina Mahsa Aminis auf die Straße gingen. Wofür stehen die beiden Verhüllten?
Als Illustration eines aktuellen Artikels über Iran reproduziert dieses Foto die vermutlich beliebteste Art der visuellen Repräsentation iranischer Gegenwart:1 eine Komposition aus verschleierten und unverschleierten Frauen, wobei der maximale Kontrast bevorzugt wird. Obwohl in Iran unterschiedliche Formen der Kopfbedeckung und Verhüllung üblich sind, scheint die Kamera vor allem den schwarzen Tschador zu lieben. Ahmad Halabisaz’ Foto einer jungen, unverschleierten, an einem Cafétisch sitzenden Frau, in deren Rücken eine Gruppe von Frauen im Tschador vorbeizieht, arbeitet ebenfalls mit diesem Motiv.2
Diese Bilder suggerieren einen Antagonismus der gesellschaftlichen Kräfte, einen inneriranischen Clash of Cultures, der wichtige soziologische Erkenntnisse verdeckt. Umfragen belegen, dass sich die Mehrheit der iranischen Bevölkerung für die Freiwilligkeit des Hijab ausspricht. In der Gruppe der befragten Frauen ist die Zustimmung statistisch noch eindeutiger.3 In Iran kämpfen nicht zwei gleichgewichtige kulturelle Lager gegeneinander. Die oft wiederholte Rede von Iran als dem Land der Kontraste verharmlost die Tatsache, dass die Militärdiktatur, zu der sich die Islamische Republik immer mehr entwickelt, den Hijab aus dem Bereich des Kulturellen längst verdrängt hat.
Das verzweifelte Festhalten an überkommenen Bildern und Deutungsmustern war ein wiederkehrendes Sujet der politischen Analysen, die im zweiten Teil der Kölner Ringvorlesung »Frau, Leben, Freiheit – emanzipatorische Potenziale« diskutiert wurden. Im Vortrag »Deutsche und europäische Iran-Politik im Wandel« – ein irreführender Titel – zeigte Simon Engelkes, weshalb die deutsche Bundesregierung und die Europäische Union weiterhin in die politische Zukunft der Islamischen Republik investieren. Von »Wandel« kann keine Rede sein. Dabei wurden zwei Geschichten aufeinander bezogen: das Zustandekommen des JCPOA (Joint Comprehensive Plan of Action) als »wichtigstem außenpolitischen Erfolg der Europäer« sowie die politische Geschichte deutsch-iranischer Beziehungen, die in das Jahr 1914 zurückreicht und in der das Atomabkommen als diplomatischer »Meilenstein« gewertet wird.4
In den Verhandlungen mit der Islamischen Republik schlüpfte die Bundesrepublik in die Rolle der »Vermittlerin« zwischen dem Regime und – man kann es nicht anders sagen – dem Rest der Welt. Damit wiederholte sich eine Konstellation aus der Zeit des Iran-Irak-Kriegs, in der Hans-Dietrich Genscher als erster westeuropäischer Politiker seit 1979 das Land bereiste und damit das bis dahin geächtete Regime legitimierte. In Interviews rechtfertigte er die Reise vom 21. Juli 1984: »Nichts wäre falscher, als dieses große und wichtige Land zu isolieren.«5 Genschers Besuch diente als Vorbild für weitere europäische Politiker, die sich von da an moralisch nicht mehr gebunden fühlten und die Geschäftsbeziehungen mit der Islamischen Republik wieder aufnahmen.
Der eigentliche Schwerpunkt der Veranstaltungsreihe lag jedoch auf der Geschichte der Künste in Iran. Eine Geschichte staatlicher Verhinderung und Zensur sowie eine der globalen Ausweichmöglichkeiten. Angesichts politischer Stagnation ist die historische Rekonstruktion widerständiger, künstlerischer Gegenöffentlichkeiten eine Möglichkeit, um die Erinnerung an die landes- und weltweite Protestbewegung wachzuhalten, die das Regime im Herbst und Winter 2022 an den Abgrund führte. Die Vorträge legten die verschiedenen Schichten politischer Kunst frei – vom frühen 20. Jahrhundert bis heute.
»Meanwhile in Tehran …«
Ein knapp einminütiges Video war das erste Beispiel einer Performance im öffentlichen Raum, das im Rahmen der Ringvorlesung gezeigt wurde.6 Es folgten viele weitere Beispiele. In dem kurzen Video tanzt eine sehr athletisch wirkende, junge Frau in der Teheraner Metro. Zum scheppernden Sound von Salute, einem Song der britischen Band Little Mix, vollführt sie ausladende Breaking-Bewegungen: auf den Boden, mit einem Sprung in die Höhe schnellend, den gesamten Wagen einnehmend, so dass die filmende Handy-Kamera nur ruckartig hinterherkommt. »Das ist wohl die neueste Mode«, hört man eine ältere Frau in abgespannt-amüsiertem Ton sagen. Die Menschen im Wagen scheinen darum bemüht zu sein, nicht als Schaulustige zu wirken. Da nur die Musik zu hören ist und niemand spricht, wirkt die Gruppe wie ein nachdenkliches Theaterpublikum.
Der Sender BBC verlinkte das Video am 27. November 2014 in der Reihe »BBC Trending. What’s popular and why«. Der kurze Kommentar informiert darüber, dass das Video auf der von Masih Alinejad betriebenen Seite mystealthyfreedom.org knapp 900 000 Klicks verzeichnet. In Elaheh Hatamis Vortrag »Zur Rolle des Tanzes in der Bewegung Frau, Leben, Freiheit« diente das Video als Ausgangspunkt für eine iranische Geschichte der »gendered bodies in motion«. Der Vortrag führte in das 19. Jahrhundert der Qajaren-Dynastie, wo adlige Europareisende zum ersten Mal Balletttänzerinnen sehen und aus Europa die Begeisterung für Tutus mitbringen – die höfische, modische Vorliebe für die Kombination aus kurzem Rock, Seidenstrümpfen und Kopfbedeckung geht auf diese Reisen zurück und ist aus der populären Iran-Ikonografie inzwischen nicht mehr wegzudenken –, und von dort in die Regierungszeit Mohammad Reza Pahlavis (1941–1979).
In dieser Zeit lernen die Töchter der Oberschicht Ballett, es entstehen Ballettschulen, und der Tanz wird zu repräsentativen Zwecken eingesetzt. Die Revolution von 1979 zwingt die Tänzerinnen ins Exil oder in den Untergrund. Die Tänzerin und Choreografin Farzaneh Kaboli gehört zu den wenigen Akteurinnen der iranischen Tanzszene, der es gelingt, ihren vorrevolutionären Ruhm in die Zeit nach der Revolution hinüberzuretten, indem sie das Medium wechselt: Aus der bekannten Primaballerina wird eine bekannte Filmschauspielerin.
Im Vergleich mit den anderen Künsten ist die Repression gegen den Tanz in der Islamischen Republik die härteste, was sich etwa auch daran zeigt, dass die Verwendung des Wortes (persisch »raghs«) in Publikationen verboten ist. Hatami benannte auch die Kräfte, die neben dem staatlichen Verbot auf den Tanz einwirken: etwa gesellschaftliche Konventionen, die das Tanzen vor Publikum sehr oft familial einzuhegen versuchen. Trotz der zahlreichen Reglements legt die große Menge der Tanzvideos, die im Zuge der Protestbewegung durch soziale Medien die Weltöffentlichkeit erreichten, die Vielfalt der tänzerischen Arrangements offen: Anlässlich des Weltfrauentages am 8. März 2023 wurde ein Video gepostet, auf dem fünf Mädchen in der Teheraner Hochhaussiedlung Ekbatan zur Musik des nigerianischen Sängers Rema tanzen.7 Viral ging ebenso der Tanz Khodanur Lojeis (Lajeis) aus Belutschistan, dessen Choreografie viele Protestierende aufgriffen. In den sozialen Medien teilten Familienangehörige kurze Videos, die zeigten, wie die Menschen, die durch bewaffnete Regimekräfte im Zuge der Proteste getötet wurden, kurz zuvor bei familiären Zusammenkünften tanzend gefeiert hatten.8 Schließlich hat sich als eine Art bewegte Mahnwache der gemeinsame Tanz vor der Botschaft der Islamischen Republik als Protestform etabliert. Wie etwa in Paris anlässlich der iranischen Neujahrsfeier am 21. März 2023, angeführt von Marjane Satrapi.9
Die erfinderische Verwendung sozialer Medien in Iran10 zeigt sich in vielen künstlerischen Bereichen und gab auch den Anstoß zu einem Projekt der Musikethnologin Yalda Yazdani, die den Film The Female Voice of Iran (2020) präsentierte. Da der solistische Gesang von Frauen auf öffentlichen Bühnen in Iran untersagt ist, nutzen iranische Sängerinnen den digitalen Raum für Aufführungen. Der Film blendet stets erst das Social-Media-Profil der Sängerin ein, bevor diese dann im Gespräch mit der Filmcrew, in Interaktion mit den übrigen Sängerinnen und in freier Landschaft gezeigt wird. Die virtuelle Verbindung als Initialmoment der persönlichen Begegnung strukturiert überdies das filmische Narrativ, in dem die anonyme Negar auf Englisch mittels eines Talismans Einladungen ausspricht und Verbindungen aufbaut.
Das musikalische Roadmovie hat das Ziel, weibliche Stimmen aus allen Teilen des Landes zusammenzuführen. Der Wunsch, Lieder und Aufführungspraktiken vor dem Vergessen zu bewahren, wird gleich im ersten Gespräch mit Baran Mozafari in Buschehr am Persischen Golf ausgesprochen. Fremd- und Eigenethnografie sind in diesem Film aufeinander bezogen, denn die aufgesuchten Sängerinnen sind ihrer jeweiligen Herkunftsregion sehr verbunden. Das zeigt sich in der großen Zuneigung zu der dort jeweils gesprochenen Sprache, die sich gegen die Dominanz des Persischen zu behaupten versucht. Indem sie auf Arabisch, Aseri und Kurdisch singen, widersetzen sie sich repressiven Maßnahmen des Regimes, das in der Schule den Kindern ihre Muttersprache austreibt. Als ein gemeinsamer Bezugspunkt der Gespräche erweist sich die Erinnerung an den Iran-Irak-Krieg (1980 bis 1988), die sowohl bei Mina Deris über die Stadt Abadan als auch bei Maliheh Moradi über Garmsar auftaucht. Die Angst vor einem bevorstehenden Krieg in einem der letzten Gespräche mit der jungen Sängerin Mahya Hamedi verbindet die iranische Geschichte der 1980er Jahre mit der Gegenwart.
Räume des Widerstands: Gärten und Höfe
Die Suche nach einem geeigneten Raum für den gemeinsamen Auftritt ist ein Leitmotiv von The Female Voice of Iran. Die Sängerinnen kommen zusammen, um sich zunächst über die Form des geplanten Konzerts zu verständigen. Nachdem sie sich jeweils zu zweit oder zu dritt in Cafés verschiedener Städte getroffen haben, strömen sie am Ende des Films alle zusammen, Hand in Hand zu einem großen Garten in Isfahan.
Alle Wege führen nach Isfahan: Indem der Film die Hauptstadt der Safawiden-Dynastie (1501–1736) als dramaturgisches Zentrum setzt, spielt er auf die höfische Tradition in der iranischen Geschichte an. Er fängt zärtliche Momente zwischen Liebespaaren ein – versetzt die Paare jedoch szenografisch in eine Landschaft, die auf beängstigende Weise verdorrt ist. Ein vollständig ausgetrocknetes Flussbett und ein Granatapfel, dessen Saft im Wüstensand versickert, kontrastieren als Bilder des Versiegens und Verkümmerns mit dem saftigen Grün des großen Gartens in Isfahan.
Was in The Female Voice of Iran der grüne Garten ist, ist in Bahar Ebrahims Dokumentarfilm 16 Frauen (2018) der Innenhof (persisch »hayat«) eines mehrstöckigen Hauses in Teheran, der ein Kollektiv entstehen lässt. Hier sind es Freundinnen, Nachbarinnen, Mütter und Töchter, die auf steinernen Stufen sitzend ins Gespräch kommen. Im Unterschied zu The Female Voice bezieht der Film 16 Frauen seine Energie aus der physischen Abwesenheit männlicher Figuren. Während in The Female Voice Väter, Brüder und Ehemänner am Rande auftauchen, lässt sich 16 Frauen als eine filmische Variation von Shahrnush Parsipurs Roman Frauen ohne Männer (1989) lesen. Die männlichen Figuren dieses Films sind entweder verstorben oder Teil einer längst vergangenen Geschichte. Die »Avantgarde der Einsamen« als das Thema eines der eindrücklichsten Gespräche im Film – diesmal in einer modern eingerichteten Wohnung – hat in der gegenwärtigen iranischen Gesellschaft eine besondere Bedeutung. Obwohl das Gespräch im Film den Rahmen des Persönlichen nicht verlässt, ist die gesellschaftliche Sprengkraft des Themas augenfällig, wenn man dieses Gespräch zu einigen weiteren Szenen des Films in Verbindung setzt: Mit einem Laden in einer Shopping-Mall und einer Fahrstunde im Auto sind berufstätige Frauen in professioneller Interaktion mit anderen Frauen zu sehen. Die Bilder sprechen eine eindeutige Sprache: Diese Form beruflicher Eigenständigkeit kennt kein männlich geprägtes Umfeld – die Avantgarde der Einsamen gibt sich hier als die Avantgarde der Alleinstehenden zu erkennen.
Beide Filme erscheinen wenige Jahre vor dem Ausbruch der Proteste im Herbst 2022. Es sind Filme über unterschiedliche Formen der Kollektivbildung. Noch bevor sich auf der Trauerfeier für Jina Amini am 17. September 2022 in Saqqez Kurdinnen kollektiv die Kopftücher abnehmen, erproben die in den Filmen zu Wort kommenden Iranerinnen einen neuen Umgang mit der Kopfbedeckung. In The Female Voice sind die farbenfrohen, dekorativ wirkenden Schals sowie die traditionellen, aufwändig gearbeiteten Stoffe sehr auffällig und konterkarieren das Ziel des Regimes, Individualität im öffentlichen Raum zu vernichten. Gegen den Verhüllungs- und Bedeckungszwang setzen die Sängerinnen die Farbenpracht und Opulenz ihres jeweiligen Aufzugs. 16 Frauen wiederum geht einen Schritt weiter, indem der Film Szenen aus privaten Innenräumen zeigt, in denen die Frauen auf die Kopfbedeckung ganz verzichten. Zwar ist dies in Iran sehr üblich, der Verschleierungszwang bezieht sich in erster Linie auf den öffentlichen Raum.
Dennoch hat die Selbstzensur in der Vergangenheit teilweise dazu geführt, dass der Dokumentarfilm den Verschleierungszwang in die privaten Räume hinein verlängerte. 16 Frauen bricht mit dieser Tradition und zeigt Gruppen von Freundinnen und guten Bekannten, die sich offensichtlich darin einig sind, vor der Kamera unverschleiert zu erscheinen.
Auf beiden Seiten: der Dokumentarfilm
Die Komplizenschaft des Dokumentarfilms mit dem Kampf der Iranerinnen um die Durchsetzung ihrer Rechte stand im Zentrum von Ziba Mir-Hosseinis Vortrag über Divorce Iranian Style (1998). Der international breit rezipierte Film der britischen Dokumentarfilmerin Kim Longinotto, der in Kooperation mit der Ethnologin Mir-Hosseini entstand, begleitet eine Reihe verheirateter Frauen vor ein Familiengericht in Teheran. Da die Scharia das für beide Eheleute geltende gleiche Recht auf Scheidung nicht kennt, sind die Frauen darauf angewiesen, entweder auf die wenigen Ausnahmeregelungen zu pochen – etwa im Fall der Unfruchtbarkeit des Mannes – oder aber die beteiligten Ehemänner zur Einwilligung zu bewegen. Wie schon in der Diskussion zu 16 Frauen sorgte auch hier die Bereitschaft der Beteiligten, vor der Kamera intime Details aus ihrem Privatleben preiszugeben, für Erstaunen und Rückfragen.
Mir-Hosseini erklärte, dass die Intimität der dreiköpfigen, britisch-iranisch besetzten all female-Filmcrew dazu führte, das Vertrauen der Familien und Gerichtsmitarbeiter zu gewinnen. In einer juristisch asymmetrischen Situation ermutigte die Autorität der mit den filmenden Frauen assoziierten Kamera die Frauen zur offenen Aussprache vor Zeugen.
In einem aufschlussreichen Text berichtet Mir-Hosseini unter anderem von den Verhandlungen mit den Zensurbehörden der Islamischen Republik.11 Wie konnte es ihnen gelingen, nach etwa zwei Jahren eine Drehgenehmigung zu erwirken? Mir-Hosseini führt die Entscheidung zugunsten des Projekts zwar auf die relative kulturelle Offenheit der Regierungszeit Mohammad Khatamis zurück (1997–2005). Die argumentative Strategie, die die Filmcrew im Vorfeld erarbeitete, um zu beweisen, dass der Film den Interessen der Islamischen Republik letztlich entgegenkommt, weist jedoch über die kulturpolitischen Konjunkturen einzelner Regierungen hinaus. Longinotto und Mir-Hosseini appellieren an das gemeinsame Interesse, ein positives Bild von den Menschen in Iran zu zeigen, mit dem sich das westliche Publikum identifizieren kann: »If we could show ordinary women, at home and in court, holding their own ground, maintaining the family from within. This would challenge some hostile Western stereotypes.« Eine wichtige strukturelle Grundvoraussetzung für das Gelingen des Filmprojekts besteht zudem darin, dass das Regime seinerseits an die Macht der Bilder – insbesondere an die Macht des Kinofilms – glaubt und selbst kulturpolitisch agiert.
In mehreren Vorträgen kamen die Programme und Strategien jener Akteure innerhalb der Islamischen Republik zur Sprache, die die Künste als »soft power« im Kampf um den Machterhalt einsetzen. Einschlägig in diesem Zusammenhang ist die Forschung der Ethnologin Narges Bajoghli, auf die Azadeh Zamirirad in ihrem Vortrag »Die unvollendete Revolution: Anhaltender Machtkampf um eine politische Neuordnung in Iran« aufmerksam machte. In ihrem Buch Iran Reframed (2019) zeigt Bajoghli, wie die Proteste der Grünen Bewegung im Jahr 2009 ein ideologisches Umdenken bei den Angehörigen des Regimes bewirken.12 Konfrontiert mit einer Jugend, die sich an den Märtyrerkult des Iran-Irak-Kriegs emotional ganz offensichtlich nicht gebunden fühlt, verfolgt das Regime nach der Niederschlagung der Proteste das Ziel, den Krieg semantisch neu zu besetzen und an die Gegenwart anzupassen.
Man appelliert nun an nationalistische Gefühle: »By taking this approach, the regime tries to appeal to a larger portion of Iranian society, targeting not only the ardent religious supporters of the regime but also secular citizens possessing nationalist sentiment.«13 Das Regime inszeniert sich als Hüter iranischen Bodens und Garant politischer Stabilität in einer Region andauernder (Bürger)Kriege. Mit der Gründung der Owj (persisch für: Gipfel) Arts and Media Organization aus Mitteln der Islamischen Revolutionsgarde (IRGC) im Jahr 2011 wird die Förderung von Projekten institutionalisiert, die neue Narrative erproben und sich erstmals auch der Hollywood-Ästhetik bedienen. Dabei gibt das Regime sowohl Filme und Social-Media-Kampagnen in Auftrag, die offen als Owj-Produkte beworben werden, als auch Projekte, die als Untergrundfilme getarnt Narrative des Regimes propagieren – wie etwa im Fall eines angeblichen Dokumentarfilms (Somayeh, 2015) über einen Oppositionellen der Volksmudschahedin. Bajoghli schreibt: »In my time in the studio with the filmmaker [Morteza Payeshenas], the main elements he used to make the film feel like an independent film was a voice-over narration from the father’s point of view. Payeshenas wrote the narration and voiced it himself.«
Die Vernetzung der bewaffneten Kräfte des Regimes mit Akteuren, die sowohl das Handwerk des Filmemachens beherrschen als auch mit den kulturellen Codes in Europa und Nordamerika vertraut sind, ist ein eigenes Forschungsfeld, das aktuell Aufmerksamkeit auf sich zieht.14 Wenn man darüber hinaus bedenkt, dass die IRGC die wirtschaftlich mächtigste Kraft innerhalb des Landes ist und über die finanziellen Mittel verfügt, um allein die Hamas jährlich mit geschätzt 360 Millionen US-Dollar zu finanzieren,15 wird das Ausmaß der Propagandatätigkeit greifbarer. Bajoghlis Buch dokumentiert zugleich den erfolgreichen Widerstand der iranischen Lehrergewerkschaft gegen die Regime-Propaganda, als Owj einen weiteren Dokumentarfilm (The Wolves) für die Lehrpläne empfiehlt und DVDs an Schulen verschickt. Die Gewerkschaft weist die Empfehlung zurück. »Not only that, teachers began to refuse to show any of the films that they were sent.«
Iranisches Kino – was noch?
Lässt man die Themen und Gegenstände der Veranstaltungsreihe Revue passieren, ist die Dominanz des Films unübersehbar. Selbst in Vorträgen, die etwa mit den Bildenden Künsten oder dem Tanz befasst waren, hatte der Film immer wieder einen zumindest kurzen Auftritt. Die Auswahl der Vortragsthemen war damit insofern repräsentativ für die Geschichte der Künste in Iran, als der Film sowohl innerhalb von Iran als auch auf internationaler Bühne einen Sonderstatus hat. Dem entspricht die hohe wissenschaftliche und kuratorische Aufmerksamkeit für das iranische Kino, die die Vernachlässigung der anderen Künste besonders sichtbar macht.
So zeigten Raika Khorshidian und Nima Mina in Vorträgen über die iranische Gegenwartskunst und Protestsongs in der aktuellen Protestbewegung, welch enorme Archivarbeit noch zu leisten ist. Sie führten vor, wie der Blick sich weitet, wenn man das Werk einzelner Künstlerinnen, die auf internationaler Bühne als Ausnahmeerscheinungen gefeiert werden, in (exil)iranische Infrastrukturen und communities of practice einbindet. Beispielsweise war der Sänger Shervin Hajipour, dessen Lied Baraye viral ging, auch vor den Protesten kein Unbekannter.16 Khorshidian gab eine Einführung in die Galerieszene von Teheran und besprach das Bild der Künstlerin Sarah Pooyanfard I determine the horizon (2020). Als semiprivate Räume wahrgenommen, können sich die Galerien dem Zugriff des Regimes teilweise entziehen und eine eigene Form kunstkritischer Gegenöffentlichkeit kultivieren.
Die wiederholte Niederschlagung emanzipatorischer Proteste in Iran führt nun seit mehreren Jahrzehnten dazu, dass Künstlerinnen das Land verlassen. Wenn heute die iranische Autorin Atefe Asadi in Deutschland auf Persisch weiterschreibt,17 werden ihre Werke Teil einer seit Generationen gewachsenen, mehrsprachigen literarischen Landschaft, in der das Konzept der Exilliteratur im literaturkritischen Gespräch immer seltener bemüht wird. Maryam Aras zog dementsprechend in ihrem Vortrag die »Tradition des weiblichen Schreibens« heran. Die ästhetische Orientierung iranischer Autoren an europäischer Kunst zurückweisend,18 rekonstruierte sie eine andere Linie persischer Gegenwartsliteratur, in der sich »weibliches Schreiben« vor allem im Ringen um die Alltagssprache zeigt. Es sind die Prosaautorinnen Shahrnush Parsipur und Fariba Vafi, die sie in den Vordergrund rückte, um damit die enge Assoziation von persischer Literatur und Lyrik aufzubrechen. Es sind Romane wie Parsipurs Tuba (1987) und Vafis Tarlan (2006), die Neues in der iranischen Literatur begründen.
Wie wird sich der revolutionäre Furor auf die iranische Gegenwartsliteratur auswirken? Denn da »auch die Sprache den Hijab trägt«, wie Fariba Vafi in einem Interview erklärt,19 leben die Romane und Erzählungen von zensurbedingten Auslassungen und gesellschaftlich erzwungenem Schweigen. Die Texte verändern sich, wenn der Pakt zwischen der in Andeutungen sprechenden Autorin und Leserinnen, die die Anspielungen zu dechiffrieren verstehen, sich überlebt hat.
Anmerkungen
Raphael Geiger, Im Land der Einsamen. In: SZ vom 16. August 2024 (www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/politik/iran-teheran-hinrichtungen-mullahs-revolution-e693137/).
Ahmad Halabisaz, Untitled vom 27. Dezember 2022 (www.worldpressphoto.org/collection/photo-contest/2023/Ahmad-Halabisaz/1).
Vgl. Yaghoob Foroutan, Demographic analysis on social perceptions of Hijab in contemporary Iran: dimensions and determinants. In: British Journal of Middle Eastern Studies, Nr. 49/5, 2022.
Vgl. Ali Sadrzadeh, Wie die Deutschen in den Iran kamen. In: Iran Journal vom 28. November 2018 (iranjournal.org/wirtschaft/deutsch-iranische-beziehungen).
»Teheran will mit dem Westen einen politischen Dialog beginnen«. In: FAZ vom 24. Juli 1984.
#BBCTrending: Dancing woman flouts rules on Tehran Metro. In: BBC vom 27. November 2014 (www.bbc.com/news/blogs-trending-30228632).
Ardeshir Tayebi, Iranian Authorities Reportedly Searching for Girls Who Danced on Women’s Day. In: RFE /RL’s Radio Farda vom 10. März 2023 (www.rferl.org/a/iran-video-girls-dancing/32312164.html).
Ein Zusammenschnitt dieser Videos wurde im Dezember 2022 auf die Mauer der Botschaft der Islamischen Republik projiziert (www.youtube.com/watch?v=pN-fY_fYNjs).
Iranian-Born Satrapi: »We’ll Roll Our Butts Until We Poke Their Eyes Out«. In: IranWire vom 22. März 2023 (iranwire.com/en/women/114982-iranian-born-satrapi-well-roll-our-butts-until-we-poke-their-eyes-out/).
Vgl. etwa Kerstin Schankweiler /Verena Straub, Bildproteste für die Freiheit im Iran. Die Mimefication des Widerstands in den Sozialen Medien. In: 21: Inquiries into Art, History, and the Visual, Nr. 4/1, 2023.
Ziba Mir-Hosseini, The Making of Divorce Iranian Style. In: ISIM Newsletter, Nr. 2/1, 1999.
Vgl. Narges Bajoghli, Iran Reframed. Anxieties of Power in the Islamic Republic. Stanford University Press 2019.
Vgl. im Anschluss an Bajoghli auch Kaveh Abbasian, The Next Battlefield for Iran’s Generals is the Movies. In: New Lines Magazine vom 6. Juli 2021 (newlinesmag.com/essays/iran-takes-its-global-wars-to-the-movies/).
Goulia Ghardashkhani /Olmo Gölz /Kevin L. Schwartz (Hrsg.), Propagandas, cultural production, and negotiating ideology in Iran. In: British Journal of Middle Eastern Studies, Nr. 51/2, 2024.
»Trotz der Nöte der eigenen Bevölkerung schickt Iran über eine Milliarde US-Dollar an Stellvertretergruppen. 750 Millionen an die Hisbollah im Libanon, 360 Millionen jährlich an die Hamas, Hunderte Millionen für die Huthis im Jemen, Dutzende Millionen für die schiitischen Milizen in Irak und Syrien.« Natalie Amiri, Die Hamas ist nicht allein. In: SZ vom 18. Oktober 2023.
Die BBC Persian-Sendung Tamam-e man aus dem Jahr 2023 verwendet einen Dokumentarfilm über Hajipour aus dem Jahr 2021, der allerdings in Iran nicht gezeigt wurde (www.youtube.com/watch?v=-gaZOgS26w0).
Atefe Asadi bei Weiter Schreiben (www.weiterschreiben.jetzt/kuenstlerinnen/autorinnen/atefe-asadi/).
Maryam Aras an SAID. In: Selma Wels (Hrsg.), anders bleiben. Briefe der Hoffnung in verhärteten Zeiten. Hamburg: Rowohlt 2023.
Auch die Sprache trägt den Hidschab. In: Zeit vom 2. November 2022.
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