Heft 847, Dezember 2019

Interview mit William Davies

von Tobias Haberkorn

TOBIAS HABERKORN: In Ihrem Buch Nervöse Zeiten schreiben Sie, dass die neuzeitliche liberale Ordnung auf zwei philosophisch-politischen Unterscheidungen beruht: zwischen Körper und Geist und zwischen Krieg und Frieden.1 Warum sind diese Unterscheidungen so grundlegend, und warum glauben Sie, dass sie heute nicht mehr gültig sind?

WILLIAM DAVIES: Ideengeschichtlich fußt der Liberalismus auf der Annahme, dass der Mensch eine besondere, letztlich gottgegebene Fähigkeit zum rationalen, autonomen Denken hat. Die Erkenntnistheorie dazu formuliert in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts René Descartes. Thomas Hobbes entwickelt daraus dann seine Idee des politischen Liberalismus. Der Körper mit seinen Leidenschaften, seinen Emotionen und seiner Sterblichkeit soll in der liberalen Politik keine Rolle spielen – außer im Krieg. Deshalb monopolisiert ein allmächtiger Staat die Anwendung physischer Gewalt. Es handelt sich da um einen ersten Akt politischer Repräsentation: Der Staat garantiert etwas, das im Interesse aller liegt, nämlich die Möglichkeit, in Frieden und Wohlstand zu leben. Auf praktisch-politischer Ebene beginnt der Liberalismus mit dem Westfälischen Frieden von 1648. Die europäischen Mächte teilten ihre Territorien, in deren Inneren sie Frieden garantierten.

TH: Das heißt, die politische Repräsentation eines Gemeinguts – des Friedens und des Wohlstands – ist etwas essentiell Liberales, demokratische Verfahren sind es aber nicht?

WD: Ja. Die heimliche Wahrheit, die uns die Populisten unserer Tage aufzeigen, liegt darin, dass der liberale Staat erst einmal nichts spezifisch Demokratisches an sich hat. Gesellschaftliche Repräsentation lässt sich auch auf Weisen herstellen, die mit Demokratie nichts zu tun haben. In Nervöse Zeiten erörtere ich, wie die Statistik als Staatswissenschaft entstanden ist und allgemeiner das Expertenwissen in der frühen Neuzeit. Auch die ersten Nationalökonomen stellten eine Repräsentation der Gesellschaft her. Der Staat repräsentiert das Interesse der Gesamtbevölkerung schon dadurch, dass er Rechtsstaatlichkeit und Bürgerfrieden garantiert. Solche repräsentativen Mechanismen dienen allen Bürgern. Demokratisch in dem Sinn, dass sie jemandem eine Stimme geben, sind sie noch nicht. Sie bilden die Gesamtgesellschaft ab, weil sie im Namen all der vielen Millionen Menschen funktionieren, die in einer Nation zusammenleben. Konkrete politische Maßnahmen, die daraus hervorgehen, müssen nicht egalitär oder gerecht sein. Für die Idee einer liberalen Regierung stellen sie aber trotzdem einen Durchbruch dar, denn mittelalterlichen Herrschern wäre die Vorstellung, sie verträten ihr Staatsvolk oder sie handelten in dessen Auftrag, völlig fremd gewesen.

TH: In jüngerer Zeit wird die Selbstbeschreibung westlicher Gesellschaften immer kriegerischer: Krieg gegen den Terrorismus, Krieg gegen die Drogen, Cyberkrieg, Klimakrieg, befestigte und militarisierte Grenzen gegen Immigration.

WD: Man muss dazusagen, dass die strikte Trennung zwischen Krieg und Frieden stets nur für die Kerngebiete des europäischen Liberalismus galt. In Kolonialgebieten gab es keine rechtliche oder regierungspraktische Trennung von Krieg und Frieden. Zur Eroberung, Verwaltung und Besicherung dieser Gebiete wurden durchgehend Kampf- und Kontrolltechniken angewendet, die wir aus der Kriegsführung kennen. Trotzdem kann man festhalten, dass der Liberalismus zumindest in dem Begriff, den er von sich selbst ausbildet, militärische und zivile Gewaltausübung getrennt halten will. Er entwickelt eine zivile Polizei, eine zivile Rechtsprechung und persönliche Grundrechte. Im Krieg gehen solche Einrichtungen über Bord.

TH: Was halten Sie von der These, die Globalisierung habe längst den Weg der friedlichen Konkurrenz verlassen und uns in einen versteckten globalen Bürgerkrieg geführt?

WD: Man sieht zumindest, dass die Unterscheidung zwischen einem Kriegs- und einem Friedenszustand in liberalen Demokratien des Westens an vielen Stellen brüchig wird. Die politische Sprache ist militärischer geworden. Verschwörungstheoretiker sprechen von einem »war for your mind«, von einem geistig-gesellschaftlichen Kriegszustand. Was früher gewöhnliche innen- oder außenpolitische Aufgaben waren, gilt heute als »Krieg«. Die tatsächliche Kriegsführung wiederum ist deutlich poröser geworden. Es gibt den Informationskrieg, den Russland angeblich gegen den Westen führt. Das militärische Vorgehen der USA basiert auf einem Drohnenkrieg und anderen unkonventionellen Arten der Intervention. Wie genau wir an diesen Punkt gelangt sind, habe ich in meinem Buch nicht direkt nachvollzogen. Mir geht es eher darum, die Ideengeschichte des Krieges und des Liberalismus neu zu lesen, um mit ihr unsere Gegenwart zu erklären.

TH: Es gibt in ihrem Buch lange Passagen darüber, wie Expertise und Fachwissen entstehen und legitimiert werden. Gelten in Krieg und Frieden andere Maßstäbe für das, was Wahrheit ist?

WD: Im Krieg muss es immer schnell gehen. Keine Situation ist so stabil, dass man ihr lange trauen kann. Was daraus folgt, sind ein generalisiertes Misstrauen und ständiger Stress, denn das Sensorium für Veränderungen und Bedrohungen darf niemals ruhen. Ausgewogene Studien oder aufwändige wissenschaftliche Experimente kann man unter solchen Umständen nicht durchführen. Man sieht das in der Art, wie sich der Finanzkapitalismus in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat: Die Beschleunigung hat einen Steuerungsapparat entstehen lassen, der auf Wahrscheinlichkeiten, Trends und Intuitionen beruht, aber kaum noch auf objektiv gegebenen Fakten. Zivile, anscheinend friedliche Gesellschaften werden mithilfe von Techniken gesteuert, die ihren Ursprung in der Kriegsführung haben. In vielen Bereichen des globalisierten Kapitalismus ist das längst der Fall. In meinem Buch schaue ich mir an, wie sich diese Konstellation durch digitale Technologien in immer größeren Bereichen der Gesellschaft ausbreitet.

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