Heft 861, Februar 2021

Kanaky zuhause

von Claudia Hamm

Der größte Unterschied zwischen Schreiben und Übersetzen ist für mich: Schreiben hat mit einem selbst zu tun, mit dem eigenen Horizont, dem eigenen Fühlen, der eigenen Sprache – beim Übersetzen geht es hinterm Horizont weiter, ich treffe auf Dinge, von denen ich nicht einmal wusste und mit denen ich mich schreibend nie beschäftigt hätte.

Den Autor Joseph Andras kenne ich von seinem Debüt Die Wunden unserer Brüder. Ein Buch über Fernand Iveton, einen pied noir, Arbeiter und Aktivisten der algerischen Unabhängigkeitsbewegung, der 1956 von den Franzosen guillotiniert wurde – mit Zustimmung von François Mitterrand, der entscheidend an der Einführung von Foltermethoden in Algerien beteiligt war. Joseph Andras ist ein Pseudonym, die Öffentlichkeit kennt ein einziges frühes Foto von ihm. Der Mittdreißiger möchte persönlich im Literaturbetrieb nicht in Erscheinung treten und hofft, man diskutiere dadurch mehr über seine Bücher und deren Gegenstände als über seine Person. Den renommierten Prix Goncourt du premier roman lehnte er mit der Begründung ab, Konkurrenz und Wettbewerb passe nicht zu seiner Auffassung von Literatur. Denn die ist klar umrissen: Andras schreibt von einer ganz physisch empfundenen Empörung her, sein Thema mit Variationen ist der französische Kolonialismus und seine Psycho-Logik. Seine Aufgabe sieht er darin, die Geschichte(n) der verschiedenen Akteure zusammenzuführen. Sein Sezieren des kolonialen Narrativs hat er nun in seinem Prosaband Kanaky fortgesetzt

– und so lande ich im Frühjahr 2020 in Neukaledonien. Und das liegt hinter meinem Horizont. Im Pazifikraum kenne ich mich schlecht aus, ich bin nie dort gewesen, der unterschiedliche Status der ehemaligen französischen Kolonien in Polynesien, Melanesien und Mikronesien erleichtert den Durchblick nicht. Tatsache: Neukaledonien liegt östlich von Australien, ein tropisches Inselparadies, das die Franzosen 1853 unter Napoleon III. eroberten und 1863 nach dem Vorbild der Engländer in ebenjenem Australien zur Strafkolonie machten. Mörder, Bettler und Prostituierte wurden nach Neukaledonien verschifft, aber auch politische Aufrührer wie Mitglieder der Pariser Kommune 1871. Um die Besiedlung der Kolonien voranzutreiben, erhielten die Sträflinge nach Verbüßung ihrer Haft ein Stück Land, das den einheimischen Kanak zuvor gewaltsam genommen worden war – indem sie von ihren fruchtbaren Ebenen und heiligen Orten in Reservate verdrängt und dem Code de l’indigénat unterworfen wurden, der die »Eingeborenen« zu »Untertanen der französischen Republik« erklärte und sie ihrer politischen Rechte und Freiheiten beraubte (durch Zwangsarbeit, Ausgangssperren, »Kopfsteuer«, das Verbot einheimischer Sprachen, Bräuche und ungenehmigter Versammlungen, die Bestrafung von »Unehrerbietigkeit« und spontane Hausdurchsuchungen), wenn sie nicht ohnehin, wie fast die Hälfte der melanesischen Bevölkerung, an eingeschleppten Krankheiten starben.

Kanaky beginnt im Heute. Joseph Andras hat für diesen Bericht zwischen 2015 und 2018 mehrere Reisen nach Neukaledonien unternommen. Sein Buch ist eine Spurensuche nach Alphonse Dianou, einem von der französischen Armee ermordeten Aktivisten der dortigen Unabhängigkeitsbewegung während der »Ereignisse« – den Aufständen in den 1980er Jahren, die sich gegen die neokoloniale Politik Chiracs (und Mitterrands) richteten, und insbesondere die ungeplant blutige Besetzung einer Gendarmerie, die von der französischen Armee mit ganzer Macht niedergeschlagen wurde und die Fragen nach der Legitimation von Gewalt aufwirft, aber auch nach dem sozialen Kitt, dem Verhältnis zu den eigenen Lebensgrundlagen, nach Raum und Zeit, Mythos und Politik, Vergangenheit und Zukunft. Für sein Buch hat Andras zahlreiche Gespräche mit Angehörigen und Freunden Dianous geführt, aber auch mit beteiligten Militärs und auf der Insel lebenden »Caldoches« – Bewohnern mit europäischen Wurzeln. Entstanden ist ein dokumentarischer Roman, der von den Mitschnitten seines Diktafons und poetischen Naturbeschreibungen lebt, von Prognosen für ein zukünftiges Zusammenleben, einfühlsamen Porträts und einer entschiedenen politischen Parteinahme für ein Volk, das seit über einhundertsechzig Jahren auf dem eigenen Territorium physisch und ökonomisch an den Rand gedrängt wird, seit achtzig Jahren mit französischem Pass lebt, mittlerweile in der Minderheit ist und ein Leben jenseits von westlichen Individualismen und ökonomischen Imperativen zu verteidigen versucht

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