Heft 871, Dezember 2021

Keine Lust auf niemanden

von Marco Bitschnau

Man sagt den Deutschen bisweilen nach, dass sie den vielbeschworenen Ingenieursgeist hätten, also einen inneren Drang zu rationalem Denken, lösungsorientiertem Handeln und nüchterner Sachanalyse. Wie immer, wenn einer Millionenbevölkerung derartige Kollektiveigenschaften zugeschrieben werden, ist das natürlich unsinnig; doch wie immer gibt es auch einen wahren Kern, und sei es nur als Autosuggestion. Umso überraschender, dass sich all diese löblichen Eigenschaften in Luft aufzulösen scheinen, konfrontiert man den man in the street in diesem Bundestagswahljahr mit Politik im Allgemeinen, Berufspolitik im Besonderen und Berufspolitikern sowieso. Ob während des Wahlkampfs oder nach dem Urnengang, ob einzeln oder im Verbund – wohin man auch schaut, verweben sich Gezeter und Geschimpfe zu einem Meinungsteppich der Unzufriedenheit. Unweigerlich denkt man an den ebenso einfältigen wie zwanghaften Slogan »Merkel muss weg!«, der jahrelang viele Straßen und noch mehr Köpfe beherrscht hat: Jetzt liegt die Kanzlerin politisch in den letzten Zügen, ihre Partei ist waidwund geschossen, doch der redemptive Effekt scheint ausgeblieben zu sein.

Dabei hat das Wahlvolk wenig Grund, sich zu beschweren; zur Wahl ins Kanzleramt hatten sich schließlich drei unterschiedliche, aber bei aller Unterschiedlichkeit doch brauchbare Kandidaten beworben. Da war der joviale CDU-Dauphin Armin Laschet, gestählt in Nachtschlachten um Parteivorsitz und Kandidatur und zudem Ministerpräsident des bevölkerungsreichsten Bundeslands; da war der formstrenge SPD-Hanseat Olaf Scholz, Merkel-Stellvertreter und Paradebeispiel einer schnoddrig-norddeutschen Polit-Nüchternheit; und da war die eindringlich-einnehmende und zugleich kokett jugendliche Annalena Baerbock als im doppelten Wortsinn première dame der Grünen. Kurzum, zweimal ausgiebige Regierungserfahrung mit verlässlichem Großparteien- und Status-quo-Gütesiegel und einmal das mit komplementären Merkmalspolstern (jung und weiblich) ausstaffierte Versprechen von Unverbrauchtheit und Aufbruch. Nicht schlecht in Zeiten, in denen anderswo Reality-Darsteller und halbseidene Komiker die Wahllisten anführen und Schritt für Schritt die Gamifizierung des Politischen vorantreiben.

Dazu verkörperte das Trio verschiedenartige Politikzugänge und Priorisierungslogiken, wobei die inhaltlichen Differenzen groß genug waren, um gestalterische Eigenständigkeit zu signalisieren, und doch klein genug, um wechselseitige Anschlussfähigkeit zu gewährleisten: Beides Grundtugenden jeder pluralistischen Ordnung und insofern konstitutiv für den allfälligen Wettbewerb um Mandate und Mehrheiten. Narzisstische Realitätsverrenkungen à la Donald Trump, politisches Glücksrittertum à la Boris Johnson oder eine überschäumende Libido à la Silvio Berlusconi suchte man derweil ebenso vergeblich wie performative Neigungen zur Demagogie, Infamie oder Megalomanie. Doch trotz all dieser zu einem Sturzbach an Wählbarkeit zusammenfließenden Features fand keine der Kandidaturen sonderliche Gnade in den Augen des Elektorats. »Bundestagswahl wird Wahlqual«, ächzte etwa Andreas Niesmann vom Redaktionsnetzwerk Deutschland schon im August, Umfragen zitierend, nach denen sich das Gros der Wählerschaft mit niemandem aus der Kandidatenriege so richtig anfreunden könne. Laschet verhalte sich »zu unernst«, Baerbock zu »unprofessionell«, und Scholz besitze zu »wenig Esprit« und wecke »keine Begeisterung«, ganz abgesehen davon, dass man seiner abgetakelten SPD nur schwer Interesse an künftiger Regierungsarbeit abnehme. Ein Rundumschlag von vielen, so vielen gar, dass man sich mitunter an ein Casting-Format erinnert fühlte, bei dem schon kleine Stilunsicherheiten ein eisiges Urteil der Jury nach sich ziehen. Im Mittelpunkt dabei stets die Frage: Wer hat sich wann in einer Weise verhalten, die dem Wahlvolk negativ hätte auffallen können?

Ansprüche

Der Unterschied ist freilich der, dass der pollice verso einer solchen Jury innerhalb der Binnenlogik der modernen Unterhaltungsindustrie noch nachvollziehbar erscheint, das Verdikt der Deutschen aber irrational bis grotesk. Wie anders soll man es nennen, wenn sich die halbe Republik wochenlang über Laschets Lachen und Baerbocks Buch mokiert und dabei geflissentlich ausblendet, dass andere Demokratien in Deutschlands Gewichtsklasse sich nach mit derlei »Skandalen« beflecktem Spitzenpersonal alle Finger lecken würden. Es genügt ein Blick über den Rhein, wo anstelle der pragmatischen Baerbock ein irrlichternder Jean-Luc Mélenchon und anstelle des dialogorientierten Laschet ganze Heerscharen dubioser Rechtsaußen werkeln. Oder über die Alpen, wo die technokratische Regierung Draghi nur schwer darüber hinwegzutäuschen vermag, dass sich mit Matteo Salvini oder Giorgia Meloni Figuren auf den Einzug in den Palazzo Chigi vorbereiten, die der lombardischen Adaption eines Nelson-Algren-Romans entsprungen sein könnten. Dasselbe Bild auch jenseits des Atlantiks, wo der Kontrast mit deutschen Befindlichkeiten besonders augenfällig ist: Hier eine vermeintlich entkernte Christdemokratie, dort sich umso kerniger gebende Republikaner; hier ein bisweilen holpriges Krisenmanagement, dort die Krise selbst als Managementform; hier korrigierte Lebensläufe, dort Kapitolerstürmungen.

Deutschland, dieser Eindruck drängt sich auf, laboriert an first world problems ersten Ranges. Nach fünfundsiebzig wohlstandssatten Nachkriegsjahren scheint sich ein eigenartiges Anspruchsdenken gegenüber dem politischen Betrieb eingeschliffen zu haben, bei dem man viel verlangt, viel bekommt, glaubt, nicht genug bekommen zu haben – und flugs noch mehr verlangt. Dazu gesellen sich Nörgellust, Zweckpessimismus und als topping ein dicker Klecks Gehässigkeit: Politiker jeder erdenklichen Spielart der Unmoral zu verdächtigen – von Selbstbereicherung bis zum Sadismus –, steht vielerorts im Rang einer Bürgerpflicht; sie mit Schimpfkanonaden zu bedenken, gilt schlimmstenfalls als Kavaliersdelikt. Und wehe, sollte denn tatsächlich einmal etwas Kritikwürdiges vorgefallen sein. Kein Missgeschick ist zu klein und kein Fehler zu menschlich, als dass der oder die Schuldige nicht unmittelbar durch den Fleischwolf der öffentlichen Meinung gedreht werden müsste. Gelegenheit zur Gegenrede, zur Klarstellung, zur Debatte gibt es in Zeiten meinungsbildender Schnellgerichte selten genug.

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