Heft 893, Oktober 2023

Kelsen im Kaffeehaus – Orte der Reinen Rechtslehre

von Sebastian Schwab

Für den holländischen Wiener vom Bräunerhof

Theorien haben Orte. So abstrakt sie auch sein mögen – irgendwo wurden sie gefasst. Das ist gewiss wahr: Man kann nicht nirgends sein. Dass aber der Ort für den Gedanken eine Relevanz hat, die über dieses schnöde historisch-topografische Datum hinausreicht, wird allenthalben bestritten, nicht selten von den Denkenden selbst. Dabei könnte eine Offenlegung manchmal sogar verständnisfördernd sein, weil sie lebensnahe Illustrationen beisteuert. Doch eine Theorie, die den Ort ihrer Entstehung kenntlich macht, steht letztlich unter dem Verdacht, auch nur Theorie dieses Ortes zu sein. Aus Lokation wird dann erst Inspiration und schließlich Reduktion. Was aus der Rückschau als wissenschaftsgeschichtliches Interesse legitim und als Suche nach dem locus genii nicht selten auch ziemlich spannend ist, war darum zuvor bisweilen Instrument der Delegitimierung.

So erging es etwa der Reinen Rechtslehre. Die in Österreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstandene Rechtstheorie ist der Ausgangspunkt aller modernen Rechtspositivismen. Rechtspositivismus meint hier: Recht hat ein Dasein in sich selbst, es ist etwa von moralischen Bewertungen nicht abhängig. Auch Unmoralisches kann demnach Recht sein und bleiben. Für Recht gibt es in dieser Lesart keine andere Begründung und Rechtfertigung als seine Setzung.

Diese moralisch neutrale Setzung kann nach politischen Maßstäben immer wieder neu vorgenommen werden. Darin ist einer der Zentralbegriffe der Systemtheorie Niklas Luhmanns antizipiert. Positives Recht ist »kontingent«. Das heißt: Es könnte auch anders sein. Nicht besser (weil es keinen rechtlichen oder sonstigen systemimmanenten Maßstab dafür gibt), sondern schlicht anders. Dieser Theorie »des positiven Rechts schlechthin«, wie es der Begründer der Reinen Rechtslehre, Hans Kelsen, fasste, wurde in den Zwischenkriegsjahren häufig der Vorwurf gemacht, politisch motiviert zu sein. Die Reine Rechtslehre sei eigentlich eine Theorie des liberalen Verfassungsstaats, so die einen, eine Theorie des Faschismus, so die anderen.

Der Vorwurf des Faschismus gegen den jüdischstämmigen Kelsen war infam, aber langlebig. Dass die Trennung von Recht und Moral die Juristen wehrlos gegen den Nationalsozialismus gemacht habe, glaubten lange Zeit viele gern. Die Geschichte der These, Reine Rechtslehre und liberale Demokratie gehörten zusammen, ist dagegen wechselhafter und interessanter. Denn diese ist sowohl schwierig zu erweisen als auch schwierig zu widerlegen. Die Beschäftigung mit ihr führt an die Orte der Reinen Rechtslehre.

Österreich

Während Kelsen weltweit als Rechtstheoretiker bekannt ist und in letzter Zeit eine spürbare Renaissance erlebt, so dass man ihn nunmehr immer häufiger im gleichen Atemzug mit dem Briten H. L. A. Hart nennt, ist sein Name in Österreich vor allem mit dem noch heute gültigen Bundes-Verfassungsgesetz verbunden. Kelsen entwickelte als dessen Architekt neben einem modernen, aufgeklärten Rechtspositivismus also tatsächlich noch die normativen Grundlagen einer parlamentarischen Demokratie.

Deren Freiheitlichkeit besteht darin, mal so, mal anders entscheiden zu können: Freiheit im Urteilen ist als politische Freiheit eine, die keine Überzeitlichkeit prätendiert, wo persönliche Verantwortung gefragt ist. Das klingt nach Kelsen. Doch von der Konsonanz auf Korrelation zu schließen – die Reine Rechtslehre also nicht nur als Strukturbeschreibung auch der liberalen Demokratie zu verstehen, sondern im Enthüllungsgestus die liberale Demokratie als Vorlage der Reinen Rechtslehre zu bezeichnen –, sollte nach Auffassung von Kelsens Schülern ein beinahe unverzeihlicher Fehler sein.

Rudolf Aladár Métall, später Kelsens Biograf, jedenfalls überschüttete die juristischen und mehr noch politischen Gegner für diesen Glauben mit Häme und Spott. Eine beeindruckende Zitatcollage sollte zur Widerlegung gereichen. Tenor: Wenn Kelsen Bolschewismus, Kapitalismus, Liberalismus und Faschismus gleichzeitig vorgeworfen würden, sei am Ende nichts von alledem richtig.

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