Konkurrenz oder Koproduktion? Zur Erinnerung an Holocaust und Kolonialverbrechen
von Catherine Davies, Laetitia LenelDie Kritik an der deutschen Holocaust-Erinnerung ist so alt wie diese selbst. Dabei war und ist die Stoßrichtung der Kritik immer auch Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen und Kontroversen. So wird seit einigen Jahren im Kontext einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft die These geäußert, dass die Aufmerksamkeit auf die Schoah die Erinnerung an die koloniale Vergangenheit in Deutschland behindert habe. Um dies zu plausibilisieren, verweisen Forscherinnen auf ein Modell der Aufmerksamkeitsökonomie, demzufolge der Holocaust »die Aufmerksamkeit von Historikern und Kulturwissenschaftlern beansprucht [habe] und im Vergleich andere Fluchtlinien der deutschen Geschichte als marginal erscheinen« lasse.
Andere wiederum argumentieren kollektivpsychologisch und behaupten, das deutsche Verständnis der »Aufarbeitung« des Holocaust folge einer teleologischen Logik, derzufolge die Schuld des Holocaust durch das öffentliche Gedenken gesühnt sei. Diese Auffassung mache für andere Formen des Rassismus und der Ausgrenzung blind. In einer zuletzt zunehmend schrill geführten Debatte wird daneben auf die Rolle »selbsternannter ›Hohepriester‹«, »Glaubenswächter« oder nicht weiter spezifizierter »Eliten« verwiesen, welche die deutsche Bevölkerung im Sinne einer »Holocaust-Orthodoxie« zu »disziplinieren« suchten.
Wirft man einen genaueren Blick auf die Erinnerungskultur anderer Länder, verlieren diese Erklärungsmodelle allerdings erheblich an Plausibilität. Schließlich stellt die Ignoranz gegenüber der eigenen Kolonialvergangenheit keineswegs ein rein deutsches Phänomen dar. Wenn das aber so ist, spricht denkbar wenig dafür, sich bei der Suche nach den Ursachen für die koloniale Amnesie auf die Erinnerung an die Schoah zu konzentrieren. Eine europäisch vergleichende Perspektive legt vielmehr nahe, dass das Vorbild der Holocaust-Erinnerung die Auseinandersetzung mit Kolonialverbrechen mitunter sogar gefördert haben dürfte.
Engagement der Überlebenden
1946 wurde im norddeutschen Itzehoe auf Initiative von Gyula Trebitsch, einem ungarisch-jüdischen Überlebenden von Zwangsarbeit, Konzentrationslager und Todesmarsch, das erste öffentliche Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus in Deutschland errichtet. Nachahmer fand dieser frühe Akt des Erinnerns allerdings nicht. Stattdessen wurde das Mahnmal elf Jahre später von seinem Platz im Zentrum der kleinen Stadt wieder entfernt. Im selben Jahr dachte der deutsche Historiker Hermann Aubin über die Geschichte des Abendlands nach. Dabei fand er lobende Worte für das »nationale Bekenntnis, mit dem auch der Nationalsozialismus angetreten ist«. In »der reinen Form Herders und der deutschen Romantik« bedeute dies nämlich »mit der Bejahung des eigenen Volkstums als eines hohen Lebenswertes zugleich die Anerkennung aller anderen Volkstümer«.
Nicht den Deutschen, sondern dem ironisch als »Befreier« titulierten Russland warf der damalige Präsident des Verbands Deutscher Historiker denn auch vor, das Abendland und die »eben erst sich wieder ankündigende europäische Gemeinschaft« zerstört zu haben. Angesichts der »Beschneidung des deutschen Staatsgebietes im Osten« und der »Massenaustreibungen der Deutschen« sei diese Gemeinschaft womöglich dauerhaft verloren gegangen, so Aubin. Schließlich sei es Deutschland »heute genommen, so wie in allen Jahrhunderten seinen hoch zu wertenden Beitrag zum Aufbau dieser Gefahrenzone in abendländischem Geiste zu leisten«.
Aubins Beitrag ist ein aussagekräftiges Beispiel für den in den 1950er Jahren verbreiteten Versuch, den Nationalsozialismus in einen über Jahrhunderte andauernden deutschen Feldzug für das Abendland einzuordnen – und von den nationalsozialistischen Gräueltaten dabei zu schweigen. Der von den Deutschen begangene Massenmord findet in Aubins Darstellung keine Erwähnung. Gewalt haben bei ihm vor allem die anderen verübt. Dass sein Artikel in einem als Handbuch politisch-historischer Bildung deklarierten Sammelband erschien, der durch das Bundesministerium für Verteidigung (Innere Führung) herausgegeben wurde, zeigt, wie konsensfähig seine Haltung über fünfzehn Jahre nach Kriegsende war.
Erst wenn man sich dies vergegenwärtigt, lässt sich ermessen, wie tiefgreifend der Wandel war, der kurz darauf einsetzte. Er verlief in mehreren Schüben und ist vor allem der unermüdlichen Initiative der Überlebenden zu verdanken – eine Tatsache, die bislang nicht ausreichend Berücksichtigung fand. Dabei spielten die strafrechtliche Verfolgung von NS-Verbrechen, die Berichte von Zeitzeugen und die Medialisierung des Holocaust eine zentrale Rolle.
Erstmals intensivierte sich die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Judenmord zu Beginn der sechziger Jahre. Neben der Welle antisemitischer Schmierereien seit 1959, der Veröffentlichung der Braunbücher in der DDR und generationellen Gründen war dies vor allem auf die strafrechtliche Verfolgung von NS-Verbrechen seit 1958 zurückzuführen. Während die Judenvernichtung im Nürnberger Prozess nur am Rand eine Rolle gespielt und der Fokus auf dem Straftatbestand der »Vorbereitung und Durchführung eines Angriffskriegs« gelegen hatte, lenkten die Gerichtsverfahren der späten 1950er und frühen 1960er Jahre die öffentliche Aufmerksamkeit auf den monströsen Massenmord.
Sowohl die Verhaftung Adolf Eichmanns als auch der erste Auschwitz-Prozess waren maßgeblich dem Engagement des Generalstaatsanwalts Fritz Bauer geschuldet, der als Sozialdemokrat jüdischer Abstammung selbst von den Nationalsozialisten verfolgt worden war. Dass vor allem der Prozess gegen Eichmann in Jerusalem 1961 die öffentliche Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen förderte, war wiederum den 112 Überlebenden zu verdanken, die im Rahmen des Prozesses als Zeugen aufgerufen wurden.
Durch ihre Aussagen hoffte der israelische Generalstaatsanwalt Gideon Hausner die nationalsozialistischen Verbrechen der israelischen und internationalen Öffentlichkeit auf solche Weise vermitteln zu können, »daß die Menschen von der Schilderung nicht wie vor sengendem Dampf zurückwichen und daß die Ereignisse nicht das phantastische, unglaubhafte Ge-spenst blieben, das aus den Nazidokumenten aufstand«. Hausners Hoffnung ging auf. »Wir alle, die wir hier aus dem Gerichtssaal berichteten, wir hatten gedacht, wir wüßten, was geschehen ist und was hier als Zeugnis wider die braune Unmenschlichkeit vorgelegt werden würde«, berichtete der deutsche Journalist Robert Pendorf am 19. Mai 1961 für die Zeit aus Jerusalem. »Für die Akten, für die Dokumente stimmt es auch. Aber es stimmt nicht für die Menschen.« Noch im April hatte Pendorf Hausners Vorgehen als »langweilig« bezeichnet. Nun schien auch er erschüttert: »Sie sprechen sichtbar die Wahrheit, diese Zeugen, es brauchte nicht des Schwures, um das zu bekunden, und es ist eine Wahrheit, die den Hörer an sich selbst irre werden läßt: weil er ein Mensch ist und solches unter Menschen möglich war.«
Der Newsletter der Kulturzeitschrift MERKUR erscheint einmal im Monat mit Informationen rund um das Heft, Gratis-Texten und Veranstaltungshinweisen.