Kritik und Mündigkeit
Jacob Taubes und die Studentenproteste von Jerry Z. MullerJacob Taubes und die Studentenproteste
Von den circa zweihundert Ordinarien an der FU gab es vielleicht eine Handvoll, die mit der aufsteigenden studentischen Linken sympathisierte, dazu zählten Helmut Gollwitzer, Peter Szondi und (etwas zurückhaltender) Richard Löwenthal. Aber niemand war so eindeutig in seiner Unterstützung der radikalen Studentenbewegung wie Jacob Taubes. Eine Zeitlang erschien er wie der spiritus rector der Neuen Linken an der FU. Er hatte chiliastische Erwartungen, die er noch aufrechterhielt, als die meisten anderen Professoren diese lange schon aufgegeben hatten.
Nach dem Vorbild des Free Speech Movement an der University of California in Berkeley proklamierte der Allgemeine Studentenausschuss (ASTA) unter dem Vorsitz von Wolfgang Lefèvre die Rechte der Studenten, jede Person zu jeder Zeit in jedem offenen Bereich auf dem Campus zu jedem Thema sprechen zu hören. Sie luden den linken Journalisten Erich Kuby ein, auf dem Campus zu sprechen, obwohl sie wussten, dass dieser zuvor von der Universitätsverwaltung für seine aus ihrer Sicht diffamierenden Äußerungen über die FU vom Universitätsgelände verbannt worden war. Der Rektor verweigerte Kuby die Erlaubnis zu erscheinen, und das führte zu organisierten studentischen Protestdemonstrationen. Kurz darauf sorgte ein anderer berühmter Fall für Aufregung auf dem Campus. Dieses Mal ging es um den Umgang des Rektors mit dem jungen Politikwissenschaftler Ekkehart Krippendorff, der den Rektor beschuldigt hatte, das Auftreten des Philosophen Karl Jaspers auf dem Campus verhindert zu haben. Als Krippendorff herausfand, dass dies nicht der Wahrheit entsprach, nahm er zwar seine Anschuldigung zurück, doch den Zorn des Rektors hatte er sich zugezogen. In jeder Phase verteilte die studentische Linke Flugblätter und stellte Plakatwände auf, wobei sich mehr und mehr Studenten an den Protesten beteiligten. Gemeinsam mit Gollwitzer, Szondi und einigen anderen Angehörigen der Fakultät unterzeichnete Taubes einen Offenen Brief, um den Protest zu unterstützen.
Die erste Sitzblockade an einer deutschen Universität fand an der FU am 22. Juni 1966 statt, als ungefähr 3000 Studenten eine Sitzung des akademischen Senats belagerten, auf der über eine Maßnahme der Studienzeitbegrenzung beraten wurde. Die Resolution gegen diese geplante Maßnahme wurde von drei führenden Mitgliedern des SDS verfasst, die Taubes alle nahestanden: Rudi Dutschke, Wolfgang Lefèvre und Johannes Agnoli. Für den SDS war die Forderung nach einer stärkeren studentischen Beteiligung an der universitären Verwaltung ein Vorbote für den »Abbau oligarchischer Herrschaft und die Verwirklichung demokratischer Freiheit in allen gesellschaftlichen Bereichen«. In den folgenden Jahren formulierte die Führung des SDS immer nachdrücklicher, dass ihr Ziel darin bestehe, die Hochschulen dafür zu nutzen, für eine grundlegende gesellschaftliche Umgestaltung zu kämpfen.
Die Proteste dauerten an, und eine radikale Gruppe, die von den Situationisten beeinflusst war und sich »Kommune 1« nannte, entwickelte unorthodoxe Wege, um öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen. Die Mitglieder der Kommune 1 organisierten eine konzertierte Aktion, um den SDS zu einer bewusst provozierenden Taktik zu bewegen, mit einer Prise Humor, um die Irrationalität der bestehenden politischen und gesellschaftlichen Ordnung zu demonstrieren. Sie entschieden sich für einen »Spaziergangs-Protest«: Am 17. Dezember 1966, dem Samstag vor Weihnachten, also mitten im Trubel des Vorweihnachtsgeschäfts, planten sie, sich auf der Haupteinkaufsmeile Kurfürstendamm zu versammeln. Damit die Polizei es möglichst schwer haben würde, den Protest zu unterbinden, wollten sie mal in diese, mal in jene Richtung ausschwärmen und sich zwischendurch immer wieder auflösen. Schlussendlich reagierte die Polizei gewaltsam und nahm 86 Personen in Gewahrsam, einschließlich Jacob Taubes, dessen Name in der Presseberichterstattung über das Ereignis prominent erwähnt wurde. Ein Polizist packte ihn grob und hinterließ einen blauen Fleck, den Taubes hinterher seinen Kollegen zeigte, als sei er gebrandmarkt. Taubes veröffentlichte einen Offenen Brief an den Regierenden Bürgermeister von Berlin, in dem er das Verhalten der Polizei als Brutalität gegen nicht provozierende und zivilisierte Studenten bezeichnete.
Im Frühjahr 1967 nahmen die Demonstrationen an der FU an Fahrt auf. Es gab immer mehr Sitzblockaden (auch »Sit-ins« genannt), in deren Verlauf Studenten Seminarräume und Gebäude besetzten, sowie »Teach-ins« – eine Praxis, die von der amerikanischen Studentenbewegung übernommen wurde –, bei denen Sprecher über die Gräuel des amerikanischen Kriegs in Vietnam referierten. Viele davon wurden vom ASTA organisiert, in dem zunehmend Aktivisten des SDS dominierten, darunter auch einige von Taubes’ Studenten. Anfang Mai unternahm der Rektor der Universität den Versuch, solche Sitzblockaden zu untersagen. Daraufhin versammelten sich circa 1500 Studenten am 6. Mai im größten Hörsaal, dem Audimax, um dagegen zu protestieren. Zu den prominenten Unterstützern der Studenten an diesem Tag zählten Pfarrer Gollwitzer und Jacob Taubes, der unter tosendem Applaus erklärte: »Das Ziel heißt: der mündige Student in einer mündigen Universität«. Die Problematik, so Taubes weiter, weise über die Universität hinaus, denn eine mündige Universität sei nur möglich in einer mündigen Gesellschaft. Aktuell jedoch finde ein Prozess der Entmündigung statt, auf den die angemessene Antwort nur Protest und Aufstand heißen könne. Er verteidigte die Sit-ins und die Teach-ins als großartigen Beitrag der amerikanischen Studenten auf diesem Weg zur Mündigkeit.
Später in diesem Monat kam es zu einem Kaufhausbrand in Brüssel, bei dem mehr als zweihundert Personen ums Leben kamen. Zwei Tage danach verteilten Personen aus dem Umfeld der radikalen Kommune 1 Flugblätter mit dem Titel »burn, warehouse, burn«, was suggerierte, dass man als Protestform gegen Kapitalismus und Vietnamkrieg das Niederbrennen von Berliner Kaufhäusern befürworte. Manche unterstellten dem Pamphlet eine satirische Intention. Doch die Polizei reagierte und erhob gegen zwei führende Mitglieder der Kommune 1, Fritz Teufel und Rainer Langhans, Anzeige wegen Volksverhetzung. Beide waren Studenten an der FU.
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