Heft 857, Oktober 2020

Kulturkampf gestern und heute

Eine Erinnerung in systematischer Absicht von Daniel Weidner

Eine Erinnerung in systematischer Absicht

Am 16. August 1869 versammelte sich eine Menschenmenge auf der Moabiter Festwiese, auf der sich ein »Luftvelocipedist«, ein Seiltänzer auf dem Fahrrad, angekündigt hatte. Als er nicht erschien, zogen die unmutigen Berliner Arbeiter und Kleinbürger weiter in die Waldenserstraße zu der erst vor einigen Wochen gegründeten Niederlassung der Dominikaner und begannen, die Fenster einzuwerfen, den Zaun niederzureißen und den Klostergarten zu demolieren, bevor sie von der berittenen Schutzpolizei zurückgedrängt wurden. Die Angreifer hätten sich, so berichtete die bürgerliche Presse in den nächsten Tagen, über die fremden Priester empört, die in Moabit ein »neues Rom« errichten wollten und die arbeitende Bevölkerung durch »Kindermärchen des müßigen Betens und Betrachtens« verhöhnten. Auch hätten sie versucht, das Kloster zu durchsuchen, weil sie gerade von einem »schauderhaften Verbrechen« aus Krakau gehört hätten. Dort war in einem Kloster eine wohl jahrelang gefangengehaltene Nonne, Barbara Ubryk, gefunden worden. Die Menge, so antwortete die katholische Presse, habe aus verkommenen Elementen bestanden, als deren Aufwiegler – je nach Organ – eine Reihe graubärtiger Herren oder einige jüdische Gymnasiasten identifiziert worden seien.

Der Moabiter Klostersturm wird oft als Anfang des sogenannten Kulturkampfs beschrieben, der heftigen Auseinandersetzung zwischen dem preußischen Staat und der katholischen Kirche in den 1870er Jahren. Als Weltanschauungskampf präludiert er die ideologischen Auseinandersetzungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber auch eine Reihe polarisierter Konflikte der letzten Jahrzehnte.

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