La méthode Vuillard
Oder der Versuch einer mündigen Geschichtsschreibung von Nicola DenisDenn die Besiegten von heute sind die Sieger von morgen,
Und aus Niemals wird: Heute noch!
Bertolt Brecht, Lob der Dialektik
Die Frage, die Eric Vuillard nach Erscheinen seines jüngsten Buchs im Januar 2019 wohl am häufigsten gestellt wird, lautet: Warum ausgerechnet jetzt? Warum in Zeiten der Gelbwestenproteste ein Opus mit dem plakativen Titel La guerre des pauvres? Ein visionärer Wurf oder purer Opportunismus, eine schnöde Anbiederung an den Zeitgeist, wie der Journalist Jean-Christophe Buisson es dem Schriftsteller vorwarf, der nie ein Geheimnis daraus gemacht hat, dass dieser Text über den von Thomas Müntzer angeführten Bauernaufstand im Jahr 1525 schon seit längerem in einer Schublade lag? Kaum jemand, der hier nicht einen Beitrag des bekennend engagierten Schriftstellers zur aktuellen politischen Lage wittert. Und die Antwort des Autors, der politische Stellungnahmen zum Tagesgeschehen ausdrücklich meidet? Nun, nicht die Geschichte erkläre die Gegenwart, sondern die Gegenwart die Geschichte. Die Vorstellung, gegenwärtige Konflikte ließen sich aus der Vergangenheit deuten und begreifen, sei zwar beruhigend, aber irrig. Vielmehr sei die Gegenwart eine permanente Wiederbelebung der Vergangenheit, und erst die Gelbwesten gäben den Aufständischen des 16. Jahrhunderts Farbe.
Vuillards Geschichte ist dialektisch, offen, unvollendet, sie lässt sich fortschreiben, in beide Richtungen. Er verfasst keine Romane mit Anfang und Ende, er ist selbst Teil der Geschichte, deren Ausgang er nicht kennt. Von Buch zu Buch erzählt er im Sinne von Walter Benjamins »Tradition der Unterdrückten« sprunghaft Momentaufnahmen eines diskontinuierlichen Geschehens, greift »eingedenkend« die Bruchstellen heraus, wendet sich gegen das von den Unterdrückern verkörperte Kontinuum der Geschichte, deren Federführer mit epischer Geschmeidigkeit eine kausale Verkettung des Realen suggerieren. Gerade die Stellen, an denen die Überlieferung abbricht, die benjaminschen »Schroffen und Zacken«, bieten ihm Halt in seinem Kampf gegen den nivellierenden Fluss des nachträglichen Schönschreibens. Die Lücken des Tradierten sind ihm, dem Literaten, willkommene Einladungen zum Imaginieren, doch er weiß auch um die apologetische Versuchung: »Als Schriftsteller zieht mich die Aura der Geschichte fast magnetisch an. Dabei misshandle ich sie ständig, entziehe mich ihr. Das ist ein unüberwindbarer, aber fruchtbarer Widerspruch: Die Aura aktiviert das Schreiben, das Schreiben wiederum will sie verscheuchen und zerstören.«
Ein Epitaph für die Namenlosen
Wohl in keinem seiner bisher in Deutschland erschienenen Bücher wird Vuillards Fabulierlust im Detail so anschaulich wie in 14. Juli. Und es ist vermutlich jenes Buch, das am exemplarischsten zeigt, wie trotz des Fehlens klassischer Protagonisten und einer linearen Narration nicht nur spannend erzählt werden kann, sondern wie kunstvoll die Vielzahl von Schauplätzen, Abschweifungen und sprachlichen Modulationen der geschichtlichen Diskontinuität und dem anonymen Kollektiv Rechnung trägt. Während Krieg der Armen ein Kapitel aus der unendlichen Geschichte der Ungleichheiten erzählt, das mit einer blutigen Niederschlagung endet, widmet sich die Revolutionserzählung deren vielleicht berühmtester Episode, aus der das Volk siegreich hervorgeht. Vuillard schreibt ausdrücklich gegen den bedeutenden Revolutionshistoriker Jules Michelet an, der den Ereignissen »mit einem fantastischen Taschenspielertrick« das Gesicht herausragender Einzelfiguren und Wortführer gegeben habe.
Bei Vuillard verdichten sich die Ereignisse zu einer Sternstunde der Masse. Die »zahlreiche Menge«, die »stumme große Zahl« und »sprachlose Masse« erscheint als die eigentliche Protagonistin, der ein ganzes Kapitel (»Die Menge«) gewidmet ist: Eine alltägliche Litanei klingender Namen und Berufe entfaltet dort über Seiten hinweg eine poetische Sogkraft. »Die Dinge müssen von der namenlosen Menge aus betrachtet werden. Und man muss erzählen, was nicht geschrieben steht«, heißt es eingangs. Die Menge als solche ist namenlos – und doch nichts anderes als ein Konglomerat aus Namen, das der Schriftsteller zum Leben erweckt, indem er das Individuum für einen kurzen Auftritt aus der Masse zieht. In Nahaufnahme verfolgt der Leser so etwa das Schicksal des Weinhändlers Cholat oder das der jung verwitweten Marie Bliard, bevor der Blick wieder in die Totale schwenkt, das Individuum erneut in der Menge verschwindet. Und noch »eine Figur […] ohne Statisten, ohne Chor, ohne Inszenierung« hat Anspruch auf ein eigenes Kapitel: »Paris«, die Summe jener Massen, ein lasziver »Körper voller Augen und Münder«.