Heft 850, März 2020

Leben im »Zeitalter der Vergleichung«?

von Hartmut von Sass

1878 bringt der vierunddreißigjährige Friedrich Nietzsche »ein Buch für freie Geister« heraus. Menschliches, Allzumenschliches ist auch ein Band für freie Assoziationen, der neben vielen anderen Themen im § 23 recht unvermittelt auf das »Zeitalter der Vergleichung« zu sprechen kommt. Wären überaus grobe Einteilungen erlaubt, könnte das vorangehende Säkulum als das der Erprobung moderner Taxonomien gedeutet werden: Klasse, Ordnung, Gattung, Art; und der Naturforscher Carl von Linné, geboren 1707, als dessen prinzipieller Ideengeber.1 Mit dem Vergleich, ungefähr einhundert Jahre später, tritt jedoch neben das Denken in Ordnungen dasjenige der Bewertungen, mithin der ausgesprochenen oder latent bleibenden Ab- und Angleichungen. Es ist zugleich das Zeitalter, in dem Kulturvergleiche angesichts gesteigerter Erfahrungen von Anders- und Fremdheit – man denke zum Beispiel an die damals erneut aufkommende Reiseliteratur2 – jene Vergleiche prominent, aber auch prekär werden lassen.

Der Vergleich bringt nicht nur einen bestimmten Denkstil mit sich, in dem Ähnlichkeiten und Divergenzen festgestellt werden, sondern er ist selbst Symptom für jene weiter gespannten, ideengeschichtlichen Verschiebungen, die mit den Stichworten der Entzauberung und Rationalisierung sowie, kritisch-negativ, des Verlusts von Transzendenz oder gar Erhabenheit einhergehen. Die Oberhand gewinnen horizontale Muster und Relationen. Dafür sind Vergleiche, die eine gewisse Gleichheit der Art und Kategorie voraussetzen oder gar schaffen, ideal.

Zu Nietzsches Vermutung

In jenem § 23 heißt es: »Je weniger die Menschen durch das Herkommen gebunden sind, um so grösser wird die innere Bewegung der Motive, um so grösser wiederum, dem entsprechend, die äussere Unruhe, das Durcheinanderfluten der Menschen, die Polyphonie der Bestrebungen. Für wen giebt es jetzt noch einen strengeren Zwang, an einen Ort sich und seine Nachkommen anzubinden? […] Ein solches Zeitalter bekommt seine Bedeutung dadurch, dass in ihm die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten, Culturen verglichen und neben einander durchlebt werden können […] Ebenso findet jetzt ein Auswählen in den Formen und Gewohnheiten der höheren Sittlichkeit statt, deren Ziel kein anderes, als der Untergang der niedrigeren Sittlichkeiten sein kann. Es ist das Zeitalter der Vergleichung! Das ist sein Stolz […] So wird uns die Nachwelt darob segnen, – eine Nachwelt, die ebenso sich über die abgeschlossenen originalen Volks-Culturen hinaus weiss, als über die Cultur der Vergleichung, aber auf beide Arten der Cultur als auf verehrungswürdige Alterthümer mit Dankbarkeit zurückblickt.«

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