Heft 895, Dezember 2023

Maschinenlogik und poetisches Weltverhältnis

von Peli Grietzer

Vor zweihundert Jahren hatten die Dichter und Philosophen der Romantik einen berauschenden Gedanken: Kunst kann die auf andere Weise nicht ausdrucksfähigen Bedingungen zum Ausdruck bringen, die Sinn und Erfahrung der alltäglichen Art erst möglich machen. Kunst, so die Romantiker, ist unser Interface mit den realen Mustern und Beziehungen, die die Welt des rationalen Denkens und der Wahrnehmung zusammenweben. Und auch wenn die meisten Philosophinnen und Künstler die Idee heutzutage nicht auf diese Weise vertreten würden, glaube ich, dass nicht vieles an der Art, wie wir heute Literatur und Musik, Film und Malerei, Tanz und Skulptur wertschätzen, ohne diese Vorstellung funktioniert. Ich will darum zeigen, dass die heute noch frischen ersten Blüten eines mathematischen Blicks auf Musterbildung, Geist und die (menschliche) Welt die romantische Kunsttheorie ganz buchstäblich plausibel machen.

Viele werden die Vorstellung, die Theorie des maschinellen Lernens über das Schicksal der romantischen Philosophie entscheiden zu lassen, für finster oder für eine Sache eines bloß frivolen Widerspruchsgeistes halten, wenn nicht gar für einen Kategorienfehler. Um das, was bei dieser Begegnung passieren könnte, wirklich zu verstehen, und um zu begreifen, warum eine mathematisch-empirische Vorstellung dessen, was Geist ist, immer schon in den Romantikern gesteckt hat, müssen wir am Anfang beginnen.

Der Philosoph Wilfrid Sellars vertrat die Ansicht, wir hätten zwei Bilder von uns. Das eine ist das manifeste Bild, in dem wir uns ungefähr so erscheinen, wie ein juristisches Verfahren in einer liberalen Demokratie uns sehen müsste. Wir handeln, wir argumentieren, wir scheitern daran, zu argumentieren oder zu handeln, wir bilden Gewohnheiten aus, wir sagen, was wir denken, wir reden Sinn oder Unsinn. Das zweite Bild ist das wissenschaftliche Bild, in dem wir das sind, was auch immer es ist, das erklären kann, warum das manifeste Bild funktioniert: Wir sind das Geheimnis dahinter, dass Netzwerke elektrochemischer Pulse ein Tier hervorbringen, dessen Spiele der Welterzeugung, der Lebenserzeugung und der Sinnerzeugung einigermaßen den Zusammenhang wahren.

Ist das alles? Nicht ganz – wir haben noch Religion, Magie, Zen, Konfuzianismus, das Sein und zehntausend andere Dinge –, aber es könnte das sein, worauf es hinausläuft mit uns. Das manifeste und das wissenschaftliche Bild formen eine in sich geschlossene, sich selbst genügende Moderne-Maschine: Die Wissenschaft konstruiert sich selbst aus der Manifestes-Bild-Rationalität heraus und verspricht, langsam und mit Sorgfalt die Manifestes-Bild-Rationalität zu interpretieren oder neu und anders zu fassen, während jeder sonstige Traum davon, wer wir sind, zum Futter für die Sozial- und die Neurowissenschaften wird. Das wissenschaftliche Bild legt es, technisch gesprochen, darauf an, jedes Bild unserer selbst um die Ecke zu bringen, aber das manifeste Bild ist das, was die Wissenschaft nur auf Teufel komm raus oder nie wird umbringen können.

Unaussprechbarkeit

Und dann gibt es die Poesie. Nicht nur Gedichte im engeren Sinn, eher ein Welt-Bild, das aus der Empörung der Kunst darüber entsteht, dass sie an all dem nicht teilhaben soll. Die Poesie wurde, wie ich das sehe, 1821 erfunden, als Percy Bysshe Shelley sehr an der nur halb ernstgemeinten These eines Freundes zu knabbern hatte, dass Dichter im Zeitalter der Wissenschaftler und Staatsmänner nicht mehr gebraucht würden. »Zu heiligem Zorne […] erregt« entwarf Shelley eine radikale, neue Theorie über die Fähigkeit des menschlichen Tiers, haltbare Welten, Leben und Bedeutungen zu schaffen: Wir haben, bei allen sonstigen Mängeln unserer Natur, ein gutes Ohr für das, was klick macht. Die Selbste, Ideen, Beziehungen, Kulturen und Wissenschaften, die wir hervorbringen, halten durch eine Art Klicken von Geist, Sprache und Natur zusammen – eine Form des An-etwas-dran-Seins, eine Resonanz, eine Vergnügen bereitende Ahnung einer unaussprechlichen Kohärenz.

Die Wurzeln des Welt-Bilds, das wir »Poesie« nennen, werden erstmals, mit einer seltsamen historischen Abruptheit, im Deutschland des 18. Jahrhunderts lesbar. Die deutsche Philosophie war noch im Taumel der Halb-Erfindung des Computers durch Gottfried Wilhelm Leibniz und suchte nach Möglichkeiten, unser Verständnis der Welt durch ein Aussprechbarer-Machen unserer Gedanken zu vervollkommnen – soll heißen, unsere Begriffe so weit, wie es nur ging, in explizite Listen oder Rezepte oder Regeln zu destillieren. Die Aussicht auf Vollkommenheit liegt dabei teils in Präzision und Selbsterkenntnis um ihrer selbst willen, teils im Versprechen, dass alle Begriffe letzten Endes auf Absoluta wie Gott oder Seele oder einen kosmischen Logos hinauslaufen, in dem unsere Gedanken Vollkommenheit erlangen.

Vor diesem Hintergrund stoßen wir auf den wunderbaren, aber halb vergessenen Alexander Gottlieb Baumgarten, der im Jahr 1735 argumentiert, dass keineswegs unser ganzes Denken nach Aussprechbarkeit strebt: Poesie ist eine besondere Art von Gedanken, ganz ausgesprochen unaussprechbar (ineffabile), und trotzdem ganz vollkommen so, wie sie ist. Was die Poesie laut Baumgarten zu etwas Vollkommenem macht, ist die Tatsache, dass Gedichte, obzwar sie unsere Gedanken nicht so transparent machen können wie die Philosophie, den Horizont unserer Gedanken erweitern, bis diese ihre Natur in größter Fülle offenbaren. Ein Gedicht ist ein Netzwerk untereinander verbundener Bilder, Gefühle und Ahnungen, das in seiner Dichte, Vielfalt und Harmonie eine Form rationaler Vollständigkeit erlangt.

In Baumgartens Traktat über die Poesie, den Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus (1735), wird in Europa erstmals Poesie als das Ineffable beschrieben. Bis zu Baumgarten war das wesentliche Kennzeichen der Dichtung, dass sie etwas Gemachtes ist (das griechische poiesis leitet sich her von »poiein«, was »machen« bedeutet), und außerdem (hier wird das Ineffable in einem banalen Sinn berührt), dass sie emotional ist. Für Baumgarten zeigte das Studium der Poesie, dass wir alles, was wir explizit denken können, auch auf ineffable Art denken können. Baumgartens Theorie guter Poesie ist von einer bizarren, fast schon computerwissenschaftlichen Brillanz: Gute Dichtung ist einfach eine große Menge sinnlicher Gedanken. Der Trick bei dieser absurd klingenden Idee besteht darin, dass wir, um viel auf einmal denken zu können, assoziativ, selbstbezüglich, lebhaft, anschaulich und zeitlich denken – und also alles daran setzen müssen, unsere Gedanken in einem lebendigen Ganzen in Verbindung zu halten. Und dieses Verbindungen erhalten nicht nur, während wir sie zugleich begreifen, das Gedankennetzwerk aufrecht, sondern treten selbst als ineffable Beziehungsgedanken ihrerseits wieder in dieses ein und agieren dann als ineffable Gedanken von Beziehungen zu (ineffablen Gedanken von) Beziehungen und so weiter, bis wir die Fülle des »schönen Denkens« erreichen. Sogar unsere Erfahrung der Schönheit des Gedichts ist zuletzt der ineffable Gedanke der Untereinander-Verbundenheit des Netzwerks des ineffablen Denkens, das den schönen Gedanken mit dem Gedanken seiner eigenen Schönheit vervollständigt. (Und weiter geht’s!) Für Baumgarten war ein Denken, das auf den Gedanken seiner eigenen Schönheit kommt, eine Art Sinnes-QED: unsere Fähigkeit der (sinnlichen) Vernunft, die Vollständigkeit eines Gedankens zu erkennen.

Kohärenz-Ideen

Die Idee, dass es eine Form von rationaler Vollständigkeit im Bilderreichtum eines Gedichts gibt, erfreute sich bei Dichtern schnell großer Beliebtheit, aber so ganz kam ihre Zeit erst, als der Kataklysmus von Immanuel Kants Kritiken – der reinen Vernunft, der praktischen Vernunft und der Urteilskraft – zwischen 1781 und 1790 Europas intellektuelles Ökosystem heimsuchte. Kants kritische Philosophie war einerseits eine Absage an die Vorstellung rationaler Vollständigkeit und brachte zum anderen poetischen Analogien dieser rationalen Vollständigkeit einige Sympathien entgegen. Dieser Spalt war es, durch den die Fluten der Romantik dann drangen.

Kants drei Kritiken haben eine Menge Metaphysik und Theologie durch die regulativen Ideen der Vernunft ersetzt. Er argumentiert, dass kosmologische, religiöse und spirituelle Schlüsselbegriffe wie »das Selbst«, »die Einheit der Natur«, »der Fortschritt der Geschichte«, »gemeiner Menschenverstand« oder »Gott« leer und dem Verstand nicht zugänglich sind, aber dennoch unverzichtbar. Wir glauben, diese weltgebenden, lebensgebenden und bedeutungsgebenden Absoluta durch die Unmittelbarkeit der Offenbarung oder den Aufstieg des Verstands zu kennen, in Wahrheit aber sind sie unverständlich, möglicherweise gar nicht real.

Dennoch funktionieren sie als komplexe Ideale der Integrität von Natur, Leben, Geist und der sozialen Welt und sind als solche das Fundament der Möglichkeit des Denkens überhaupt. Richtig verstanden, bestehen diese metaphysischen Ideen teils aus Annahmen, teils aus Hoffnung, teils aus Methode und geben uns »übersinnliche« (das heißt über das Sinnliche hinausreichende) Kriterien der Kohärenz für unser Erleben. Es sind diese Kohärenz-Ideen, die uns in den höheren Alltagsfunktionen des Verstands anleiten: Wir verlassen uns auf sie, um das Wirkliche vom Nichtwirklichen und das Objektive vom Subjektiven zu unterscheiden, um Theorien zu entwerfen und Begriffe anzuwenden. Diese Ideale (Methoden, Annahmen, Heuristiken, Hoffnungen) aufzugeben, hieße das Leben und den Verstand aufzugeben.

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