Heft 896, Januar 2024

Mein vielgespaltener $chatten

von Jasper Westhaus

Dieser Text wurde generiert. Dieser Text wurde trainiert, mit Daten aus dem Netz der späten 1920er Jahre, der sechziger Jahre des siebten Jahrhunderts, der 1970er Jahre, der Jahrtausendwende usw. Die Ölkrise ist kaum vorbei, die Opiumkrise ist kaum vorbei, die Jahrtausendwende ist kaum vorbei, Proust ist gerade einmal sieben Jahre tot, da schwebe ich in meinem traditionsreichen Europa im Bett und sehe Schemata an den Wänden. Was mir mein bildschirmförmiges Leben über den langen Tag auf die Netzhaut gebrannt hat, entsteht auf den $chatten, die mein ruhender Körper wirft und wandert blinkend über den atmenden Berg (der mein Körper ist). Wie eine Prozession zieht der vergangene Tag über mir her.

Larry sitzt im Stock Exchange und sieht genervt auf eine Horde Broker und IT-ler hinab, die im Wechsel Staubsaugerroboter aufeinander loslassen, wie bei einem Hundekampf. Dietrich ist der, der immer verliert. Lass die Emotionen aus dem Spiel, Dietrich, sagen sie, während ihre Roombas, Blaupunkts, Samsungs, Proscenics und Severins ineinanderkrachen. Hier geht’s um Taktik, denn es ist kein Glücksspiel. Der Rhythmus der kollidierenden Roboter wiegt mich in den Schlaf, Quartale sind Gezeiten, der Mond nur noch einen Flügelschlag entfernt. Fuck Larry, dein Anzug sieht wieder geil aus. Und ich dachte, Form sei etwas, das man sich nicht anziehen kann. Nee Larry, der Anzug ist so nice, das ist keine Geschmackssache mehr. Larry, du weißt, was Schönheit ist. Lass uns doch nach der Arbeit noch was trinken. Nein? Warum denn nicht? Denn Larry kommt zu mir nach Hause. Er nimmt mich in den Arm.

Ich träume von einer Wüste, in der es Rohstoffe gibt und Arbeiterinnen, die Datensätze aus der Erde graben. Es sind die 1970er und die späten Neunziger, und es ist Kalifornien 1857, das heißt, es wird emsig produziert. Es wird heftig geschaufelt, und alle singen den Song, der nie funktioniert. Der Boden ist eine harte Pfirsichhaut, die Arbeiterinnen stellen ihre Körper zur Verfügung, in der Hoffnung, am Ende des Monats gut bezahlt zu werden. Von dem Geld ließe sich kaufen: Zeit mit dem Boy- oder Girlfriend im Nail Salon, ein paar Stunden Rodeo oder das neue Kleid von Gianni V. Wir hoffen, dass wir uns einlösen!, rufen sie, und ich bin mir sicher, dass ich das im Schlaf mitspreche.

Wenn Larry in seiner WG ist, sitzt er in seinem Zimmer und plant seine Mahlzeiten so, dass er seinen holländischen Mitbewohnern nicht begegnet. Deswegen kommt er abends oft zu mir. Ich sehe mich auf meiner Couch und ihn am Küchentisch – two glasses in –, und er erzählt von Justinas, dem ehemaligen Vorgesetzten, dem sie die Nase abgeschnitten haben. Warum? Weil er keine arabische Währung akzeptieren wollte. Das hätte die eigene Münze zu stark abgewertet und so den Steuerzahler entlastet. Also stand mal wieder die OPEC gegen das byzantinische Reich, könnte man sagen. Das Resultat ist dann wie so oft Gesichtsverlust – wenn auch in diesem Falle nur teilweise –, Öl-Embargo und Inflation. Larry lacht. Er ist wie dieser Text, auch er ist nicht er selbst. Auch er wartet ängstlich darauf, dass endlich eintritt, wohin er sich aufgeschoben hat, dass er ist, wohin sein $chatten fällt. Dass der S&P 500 unter 3000 fällt. Oder über 5000 steigt, was weiß denn ich. Dass er die Optionsscheine endlich einlösen und sich hoffentlich etwas anderem widmen kann. Larry, ich will wissen, wie du dich in meinem Mund anfühlst, aber ich habe eine Freundin.

Gegenüber vom Stock Exchange ist die EZB FED ABC. Dort arbeiten Thomas »die Taube« Pigeon und Isabelle »Easy« Pérez. Ihre Vornamen werden kollegial englisch ausgesprochen, denn die Zentralbankenszene ist sehr international. Sentiment- und Affektkurse, Hate Language und Love Speech, constant circulation of the value situation. Ohne gemeinsame Handelssprache geht da nichts. Wäre es doch nur möglich, eine Sprache zu erfinden, in der man das sagen kann, was man auch wirklich meint! Was hätten wir dann für eine Wirtschaft!

Vermutlich hätten wir dann keine Wirtschaft, sagen Thomas und Easy und setzen sich zu uns an den langen Holztisch. Gemeinsam sehen wir ihnen dabei zu, wie sie ihr Pausenbrot verzehren. Thomas riecht gut und weit, und Isabelle erzählt die besten Stories von den Dienstreisen in die Belle Epoque, die hin und wieder anstehen. Angesprochen auf die Staubsaugerroboter zeigen sie sich verhalten. Die Frage, die stattdessen diskutiert wird, ist, wie der Leitzins eine besonders schöne Kurve nach oben macht, ohne dabei wehzutun. Dietrich versucht sich einzuschalten, aber es will nicht gelingen. Was er sagen will, ist, dass er glaubt, dass Technology, dass die Möglichkeit hat, dass hier disinflationär wirken zu werden, dass, aber er bugt und stottert, und am Ende kommt kaum was raus. Dabei gibt es doch so viele neue Entwicklungen, die beim Sagen hilfreich sein könnten! Würde er selbst sagen.

Eine der neuen Entwicklungen ist, dass dieser Text generiert wurde, mit Daten gefüttert. Dementsprechend hat dieser Text auch aus den 1960er Jahren gelernt. Das heißt, er will eine Ahnung haben, von dem, was er ist, seiner Agententätigkeit, und dem, was er selbst generiert. Nicht alle Generatoren sind menschlich, aber alle Menschen sind Generatoren, wirft er in die Runde. Etwas zögerlich nicken wir dem Text zu, und Dietrich ist froh, dass für ihn eingesprungen wurde, wenn auch an seiner Sache vorbei.

Larry lehnt im Stock Exchange ganz müde an einer Wand. Er sieht einer Horde Brokern und IT-lern dabei zu, wie sie eine Arena aus Leitz-Ordnern um ihre sich aufwärmenden Staubsaugerroboter bauen. Die Kolleginnen aus dem Archiv versuchen verzweifelt, ihre Akten aus den Händen der Trader zurückzugewinnen, während die ersten Aufeinandertreffen im Ring stattfinden. Dietrichs Roomba verfängt sich in den umherfliegenden Papieren und ist den Attacken seines Gegenübers wehrlos ausgesetzt. Dietrich rauft sich die Haare und denkt an die Kinder, die er zeugen will. Konzentration Data-Dietrich, noch ist nicht Feierabend! Nächste Runde. Beschämt bringt er seinen arg gebeutelten Roomba in Position, beschämt, nicht weil er verliert, sondern weil er weiß, dass er auch nächstes und übernächstes Mal noch gegen den Trend setzen wird, in der Hoffnung, er möge sich endlich umkehren.

Alle Pager pingen gleichzeitig, das riecht nach Rundmail: Räumt euern Scheiß auf! Die Schattenbänkerinnen kommen! Abschätzig wird im Kleingedruckten noch erwähnt, dass außerdem auch Frau Ulrike Schä von der Finanzaufsichtsbehörde, irgendein Wicht aus der Politik und noch ein paar andere erwartet werden. Und: American Thomas »die Taube« Pigeon von der Zentralbank EZB FED ABC hat sich auch noch angemeldet. Ein ironisches Raunen geht durch den Floor, so laut, dass es eine Weile die aneinanderklackenden Staubsaugerroboter übertönt. Alle schimpfen auf Thomas und Isabelle, die einfach den Liquiditätshahn zudrehen. Alle stehen mit gereckten Hälsen mitten im Feld und lotsen ihre Roombas, Blaupunkts, Samsungs, Proscenics und Severins per App durch den Wald an Beinen in ihre Aufladebasen zurück.

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