Moral Mazes 24
ArbeitsjournalFrühjahr und Herbst 2019 von Rainald GoetzArbeitsjournalFrühjahr und Herbst 2019
mach es wie die Sonnenuhrzähl die heitren Stunden nur
Das Gefühl beim Notieren: ein Drittel ist brauchbar, ein Drittel sind Wiederholungen, ein Drittel ist unschön. Es deprimiert mich, das nachträglich zu sortieren. Aber im Herbst 2019, als ich mit meinem Polittheaterstück Reich des Todes fertig war, wollte ich für das zurückliegende Frühjahr, in dem Michael Rutschkys Tagebuchband Gegen Ende erschienen war, eine solche Bearbeitung doch einmal versuchen.
Februar
27. Wissen, Unglück, Staunen, Lernen. Lese Joseph und seine Brüder, Höllensturz, Band eins, aber der Josephs-Roman ist kein realistischer Roman, kein historischer, sondern ein manieristischer, ein phantastischer, eine Fantasy-Geschichte.
Kreuz und quer: Peter Sloterdijk, Tagebuch 2, August bis September 2011. Die Menschen sterben, leiden, die Gebirge stehen steinern und unmenschlich da, die Bücher und Sentenzen leben. Ein solches Intellektualitäts-Protokoll bereichert das eigene Denkleben auf tolle Art, es gibt ja eigentlich keine Idee, von der man nichts wissen will, sogar unsympathische Dinge sind in der Denkwelt auf faszinierende Art interessant. Der Tod geht um. Seite 157.
28. Jean Améry, der essayistische Schriftsteller, das Freitod-Buch und das Altern-Buch, um 1978 herum, später Fritz J. Raddatz; die Tatsächlichkeit der Tat des Suizids überstrahlt dann das vorher dazu Geschriebene, man kann das Geschriebene danach nicht mehr richtig ernstnehmen, obwohl die Autoren selber sicher das Gegenteil glaubten, so auch bei Herrndorf.
Wie ist es mit dem WISSEN, es soll da sein, aber sich nicht wichtig nehmen. Ein paar französische Schüler stehen in Gruppe am Brandenburger Tor, nur mit sich selbst beschäftigt, sie brauchen kein Wissen über Berlin, keine Führungen, es reicht ihnen, daß sie hier rumstehen. Aber dann fällt mir Luhmann ein, wie sich die Beschäftigung mit ihm nie wie ausreichendes Wissen anfühlt, deshalb immer mit Ungenügen am Unwissen erlebt wird, mit Freude am Neuen, das man gerade versteht, an der Unerschöpflichkeit jedes großen Gegenstandes. Wissen soll Aktion sein, nicht Bestand.
März
1. Je weniger die Welt so ist, wie von der Theorie vorhergesagt, umso sicherer sind sich die Polittheoretiker, daß ihre Theorie stimmt, die Welt in Wirklichkeit doch so ist, wie sie sagen, spätestens in der Zukunft so sein wird; Unbeirrbarkeit, Hochmut, logeleihafte Beweise. Wie ich das schöne blaue Buch von Peter Hacks sehe, Zur Romantik.
4. Wir haben gelacht und waren glücklich, das war die Jugend. Foto von Westbam und mir, April 1997, Celebration, 260; heute hat er Geburtstag, 4.3.1965, die Ziffernmusik dieses Datums. Jugend ging bei mir bis etwa 2001, seit 1999 mit Abschiedsschmerzen, danach EXISTENZKRISE. Daß man sein Leben fundamental nicht versteht, gehört zum Lebendigkeitsvorrang, der Blindheit als Bedingung, daß Gespürorientierungen auf verdeckte Art den Lebensweg so steuern, daß es vielleicht gelingt, daß man ihn findet. Wie ich lese in der Schelling-Biographie: 1809. Existenzkrise.
Der IMAGO-ASPEKT verblaßt mit der Zeit, die Person des Künstlers verschwindet aus der Welt, mit ihr auch das Werk, das vom Interesse an der Person mitbelebt war. Aber es ruht dann da irgendwo als das, was es ist, unabhängig vom Akt der Herstellung und dem der Rezeption, nur für sich. Diese Autonomie hat auch was Schönes. Beim Anschauen des Fotoumschlags von Celebration, 1999, mit dem ich zeitweise so unglücklich war, jetzt im Moment, HEUTE MORGEN, allerdings gerade nicht, denn er zeigt mein 1996, genau das also, was er zeigen sollte.
6. Das vielgefeierte Kaffeehausschreiben, hier zuletzt von Ferdinand von Schirach im Zeit-Magazin-Interview wieder gefeiert. Es paßt zu diesem Kollektivraum, daß dort eine Literatur entsteht, die über Gefühls- und Wortfloskeln nicht hinauskommt, dabei aber ganz selbstbewußt der Meinung ist, daß ihr gar nichts fehlt: Konzentration, Eigensinn, Künstlichkeit, Erratik, Krypse.
7. Schonungslosigkeit ist kein Konzept der Wahrheit; und exzessive Explizität dem eigenen Triebleben gegenüber, auch wenn das bei Freud aufklärerisch so angelegt ist, keine gute Methode, sich selbst und das Lebensschicksal, das einem zugelost war, richtig zu verstehen. Michael Rutschky, Gegen Ende.
9. Das UNWOHLWOLLENDE. Scheels höchst zutreffende und zentrale Begriffsbildung zu Rutschkys Tagebuch, zugleich eine Menschlichkeitskategorie, die jedes Tagebuch betrifft, denn im Nahbereich der privaten Kontakte muß das Wohlwollende bestimmend sein, Latenz, Diskretion. Literatur soll vor Negativität bersten, das Tagebuch soll von Güte grundiert sein, wie das Leben. Es ist ein spezifisch 68er-haftes Programm, daß die Grundunterscheidung zwischen öffentlich und privat für falsch gehalten und deshalb mißachtet wurde; mit vielen giftigen Wirkungen auf das Leben der Protagonisten, die ihren Ideen auch noch viel zu entschieden folgsam gefolgt sind, ganz dogmatisch, durch schlechte Erfahrungen nicht belehrbar.
Man trägt die frühen Wunden der Geschlechtlichkeit und Liebe lebenslang mit sich herum, aber doch versöhnt damit durch spätere Erfahrungen, ohne die Phantasie, diese Wunden am Ort ihrer Entstehung, mit dem damaligen Personal auch noch, das ja gar nicht mehr lebt, auch wenn es die gealterten Personen noch gibt, zur Ausheilung bringen zu können, wie Rutschky das versucht. Wodurch ich an die Verliebtheitsgeschichte mit meinem Mittelschulmädchen dachte, mit 15, die mir beim Tanzen ihre beiden Hände flach auf meine Brust legte, urverwirrend, dann im Pasinger Freibad, aber sie hat so die gehemmte Unsicherheit in sexuellen Dingen bei mir mithervorgebracht, die sich später im Leben immer wieder als völlig richtig rausgestellt hat, beim Suchen und Finden der Liebe. Gehemmtheit als Geschenk, wahrscheinlich von der Mutter, die einem nicht nur ihre Liebe gibt, sondern auch die Art, wie sie selbst die Liebe lebte.
12. Nicht schlecht über andere reden. Nicht bösartig scharf beobachten. Nicht zu viel über sich selbst nachdenken. Andere nicht zu sehr belügen oder dauerhaft täuschen. # Gefühle der Scham respektieren, im Nachdenken, im Verhalten. Die fundamentalen Fragen nicht überschlau bestürmen, sie ausreichend offen lassen. Sich selbst nicht für allzu klug halten und Klugheit nicht überbewerten. Güte ist wichtiger als Radikalität. # Trauern, Abschiednehmen, Altern, die Verschlechterungen nicht obsessiv vertiefen. Sich ändern, wo nötig, falsches Verhalten abstellen. Problem Alkohol: weg damit. Vieles, auch vor sich selbst, nicht aussprechen, schon gar nicht schriftlich festhalten. Das Denken nicht frei laufen lassen, von unschönen Gedanken wegsteuern.
Größte Gefahr der Klugheit: Eitelkeit; zweitgrößte: Dummheit. REICH DES TODES. Wie ich paar Zeilen im Tagebuch von Teilhard de Chardin lese, 4. Februar 1916, Tagebücher I, 38.
13. Haben Sie schon Einblick in Ihre Stasiakte genommen? Der falsche Freund. Michael Rutschky, das KLANDESTINE des schriftlichen Festhaltens dessen, was ihm von Freunden und Bekannten privat mitgeteilt wurde, ist ein erstaunlicher Bruch der Vertraulichkeit, ein echter Verrat. Schon Klatsch ist selten so harmlos und amüsant, wie immer gesagt wird, meist ist er zumindest menschlich fies, der Fixationsakt privater Mitteilungen für den öffentlichen Text ist das erst recht, er zerstört das Mitmenschliche zwischen den Menschen, außerdem auch die so wichtige Flüchtigkeit der Mitteilung des in Redeform nur gesprächsweise Gesagten. Es ist ein Verrat an den Freunden und ein Verrat am Gespräch.
Für diese Art Verrat gibt es keine Rechtfertigung. Kurt Scheel berichtet in seinem Vorwort, Michael Rutschky habe sich ihm gegenüber eben damit gerechtfertigt, er hätte eine ihn, Scheel, kränkende Bemerkung nicht auslassen können, »denn so sei es eben gewesen, es werde in diesen Tagebüchern prinzipiell schonungs- und schrankenlos zugehen, rücksichtslos gegen alle, und ich möge doch Nachsicht üben und bedenken, daß er mit sich härter umspringe, sich noch peinlicher selbst entblöße als die anderen. Das stimmte zwar irgendwie, war mir aber kein großer Trost.« Gegen Ende, Vorwort, 7.
Nein, muß man sagen, es stimmt nicht, daß das irgendwie stimmt, Scheel hat Recht damit, daß ihn das nicht tröstet. Aber warum sieht er die Fehlerhaftigkeit von Rutschkys Begründung nicht? Daß der Täter vom Opfer verlangt, es solle gerade mit ihm nachsichtsvoll sein und Mitleid haben, denn er selbst habe noch mehr unter sich zu leiden als seine Opfer, ist schlimmster Täterwahn. DER FALSCHE FREUND. Auch dieser Begriff ist von Kurt Scheel, so hat er sich selbst seine Enttäuschung über den Verrat von Michael Rutschky zurechtgelegt, berichtet Jörg Lau im Nachwort. »Mancher verliebe sich in die falsche Frau, sagte er, und mancher binde sich halt an den falschen Freund.« Gegen Ende, Nachwort, 353.
Allerdings war die Essayistik von Michael Rutschky von Anfang an auf diesem VAMPIRISMUS begründet, andere zu Beispielfiguren der eigenen Theoriespekulationen zu machen, sie dafür ausbeuterisch zu benützen. Ganz programmatisch hat er seine Nah- und Mitwelt auf die Art mißbraucht. Es dauerte paar Jahre, bis ich merkte, daß er das, was ich ihm erzähle, für seine Texte auf eine Art verwendet, mit der ich nicht einverstanden war. Ich hatte ihm anderes erzählt als das, was er dann daraus machte, die Wiedergabe stimmte nicht, er fälschte meine Erzählung für seine Zwecke so zurecht, daß sie seine Theorie belegen konnte. Der Einzelfall-Soziologe war kein guter Reporter des realen Einzelfalls, die Darstellung seiner Beobachtungen am Einzelnen war zu sehr gelenkt von dem, wozu sie als Beleg dienen sollten in seiner Theorie.