Heft 883, Dezember 2022

Musikkolumne

»Musicking« von Tobias Janz

»Musicking«

Phasen des Umbruchs in der Musikgeschichte gehen oft mit subtilen Verschiebungen in der musikalischen Terminologie einher. Als würde der Wortgebrauch intuitiv registrieren, was sich zusammenhängend erst mit dem Abstand von Jahrzehnten überblicken lässt. Eine zukünftige Musikgeschichte wird sich mit der beachtlichen Karriere des aus dem Englischen stammenden Wortes »Musicking« beschäftigen müssen, das vor kaum einem Vierteljahrhundert zunächst vereinzelt in akademischen Diskussionen auftauchte und sich heute als weithin akzeptierte terminologische Alternative zum Musikbegriff anbietet.

Man begegnet ihm zuverlässig in den Titeln von Referaten auf internationalen Tagungen. Wissenschaftliche Datenbanken verzeichnen ein entsprechend breites Spektrum von Gegenständen: Es finden sich Aufsätze über »Musicking« bei Pygmäen, in hinduistischer Musik, in Bachs Kantaten, in der Musikpädagogik und in Singer-Songwriter-Traditionen sowie im Kontext der Debatten um die Dekolonisierung der musikbezogenen Fachdisziplinen. Der Gegenstandsbereich scheint umfassend zu sein. Ein nicht minder breites Spektrum deckt ein 2020 erschienener Sammelband aus der Geschichtswissenschaft ab, der sich dem Thema Musicking in Twentieth-Century Europe widmet. Hier fallen sogar Bereiche wie die Musikkritik, das Mäzenatentum, die Musikdiplomatie und das Copyright unter den Begriff.

Die Wortprägung, die der neuseeländische Autor, Komponist und Musikwissenschaftler Christopher Small (1927–2011) für sich in Anspruch nahm, komprimiert auf komplizierte Weise gleich mehrere jahrhundertealte musik-, sprach- und kulturgeschichtliche Umbrüche: Sie ist die Substantivierung eines Verbs (»to music«), das seinerseits eine Konversion des alteuropäischen Hauptworts »Musica /Music /Musik …« darstellt, welches seiner altgriechischen Herkunft nach wiederum eine Substantivierung des Adjektivs »« war. Das charakteristische Schwanken der europäischen Wortgeschichte zwischen Eigenschaft, Sache und Tätigkeit verweist auf die grundsätzliche Schwierigkeit zu bestimmen, worum es sich bei dem handelt, was gemeinhin als »Musik« bezeichnet wird.

Es zeigt aber auch, dass die Akzente in unterschiedlichen Momenten der Geschichte unterschiedlich gesetzt worden sind, und genau darum scheint es in der gegenwärtigen Umbruchsituation wieder zu gehen. Wer »Musicking« sagt, gibt eine terminologische Antwort auf die Frage, wie sich die offensichtliche musikalische Heterogenität in unserer Gegenwart begrifflich und kommunikativ integrieren ließe. Der um Aufklärung bemühte und vor allem integrative Zug hat oft aber auch einen polemischen Touch und seine ideologische Seite. Inwieweit sich der Gebrauch des Wortes davon wird lösen können, ist noch nicht absehbar. Momentan bietet dies Gelegenheit, musikalische Terminologie gewissermaßen im Moment ihres Entstehens zu beobachten.

Problematisch erscheint der traditionelle Begriff »Musik« heute nicht allein wegen seiner europäischen Herkunft und Prägung, sondern weil er – so die geläufige Begründung – dazu tendiere, Musik zu verdinglichen, sie als Objekt zu denken. »Musicking« akzentuiert demgegenüber den Tätigkeitscharakter, das doing music. Small hat das Wort nicht erfunden, er hat es eher gefunden. Man kann es als Kontraktion von »music making« lesen, im Englischen kommt es bis ins 19. Jahrhundert auch als Ableitung aus der älteren Schreibweise »musick« vor. Ähnliche Wortbildungen kennt das Deutsche noch in der mit dem musikalischen Kunstwerk assoziierten Beethoven-Zeit, sowohl das Substantiv »Musick« (»in Musick gesetzt«) als auch, laut Grimms Wörterbuch, das heute vergessene Verb »musiken«.

Was auffällt, ist die Diskrepanz zwischen dem altmodischen Klang des Wortes und den doch avancierten Strömungen der globalen Musikdiskurse, die sich heute auf seine Verwendung einlassen. Es ruft nicht nur den Sprachgebrauch vor 1800, sondern vor allem die 1920er und 1930er Jahre auf, als Termini mit ähnlich altmodischem Flair wie das »Musische« oder »das Musikantische« in der Jugendmusikbewegung oder der Reformpädagogik Konjunktur hatten.

Terminologische Beweglichkeit verband sich damals mit sprachpolitischen Motiven, dem Bestreben, mit der bürgerlichen Musikkultur und ihrer Terminologie zu brechen. Eben darauf zielte die mit der vormodernen Sprachschicht verbundene Distinktion. Dass »Musicking« im Deutschen neben gängigen Ausdrücken wie Musik machen, musizieren, singen, spielen, tanzen usw. heute attraktiv, unverbraucht wirken kann, dürfte ebenfalls mit dem Moment des (rückwärtsgewandten) Traditionsbruchs zusammenhängen.

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