Musikkolumne
»Musikdinge« von Tobias Janz»Musik ist kein Ding«, lautet eine Redewendung, der man in musikalischen Theoriedebatten häufig begegnet. Was stimmt nicht an dem Satz und der manchmal mitschwingenden Emphase? Offensichtlich kann man Musik nicht aufhängen wie ein Bild oder aufstellen wie eine Skulptur. Wäre es so, würde man abgrenzend von Klangkunst und nicht von Musik sprechen. Musik ist flüchtig, sie ereignet sich performativ in der Zeit. Akzentuiert man das Tun, den Ausdruck oder das Erleben, sagt der Satz etwas nicht minder Selbstverständliches. Warum fällt er dann überhaupt?
Dass Musik in ihm negativ bestimmt wird, als etwas, was sie nicht ist, mag ein Indiz dafür sein, dass sich ein Bewusstsein von Musik als Ding mit einer gewissen Hartnäckigkeit und vielleicht sogar Berechtigung hält. Der Satz hätte dann nicht den deskriptiven Sinn einer Feststellung, sondern einen normativen Sinn. Er spräche aus, was nicht sein soll, würde dabei aber negativ aufzeigen, was in der Lebenswirklichkeit durchaus der Fall ist.
Diese Dialektik von Sein und Sollen gehört zur Musikgeschichte, seit Platon und Aristoteles die Musik als Gefahr für die politische Ordnung zu regulieren versuchten. Es lohnt sich deshalb, der Realität dessen nachzugehen, was der Satz verneint. In welcher Hinsicht wird Musik als Ding begriffen, mit welcher Berechtigung kann man sie als Ding begreifen? Die musikwissenschaftliche Literatur bietet dafür mehrere Anknüpfungspunkte. Man findet sie in Beiträgen aus dem Umfeld des »New Materialism«, zur Phänomenologie des Musikhörens sowie schließlich in einem Versuch, den Begriff des musikalischen Werks neu und umfassender zu denken.
I
Erfahrungen mit der musikalischen Reproduktionstechnik vermitteln – seit Einführung der CD – zunächst den gegenteiligen Anschein einer sich zunehmend ins Immaterielle zurückziehenden Musik. Digitale Tonträger werden als »nichtphysische« von den physischen unterschieden; digitale Kopien gelten als »verlustfrei«, weil im Binärcode, der Musik auf die digitale Information reduziert, außer den Daten selbst in gewisser Hinsicht offenbar nichts mehr verloren gehen kann.
In analogen Musikmedien wurde die Eigenästhetik des jeweiligen Mediums oft als Verlust an Musik erfahren, ihr materialer Überschuss war musikalisch gesehen eine Beschränkung. Wie von fern durch einen dichten Schleier technisch erzeugten Geräuschs hört man Enrico Carusos Tenorstimme in frühen Grammophonaufnahmen. Heute werden, in nostalgischer Rückschau, die materialen Eigenqualitäten der historischen Musikmedien geschätzt: der warme, knisternde Schallplattenklang, die Haptik, der Geruch, das Gewicht physischer Tonträger, die Bilderwelt ihrer glänzend bedruckten Oberflächen.
Das Digitale kennt solche materiellen Einschränkungen kaum noch, muss sie gegebenenfalls simulieren. Materielle Widerstände beschränken sich im vernetzten Musikgebrauch auf die Interaktion mit dem physischen Interface, den berührungsempfindlichen Bildschirmen von Smartphone oder Tablet. Der musikalische Klang strömt, wann immer man will, in immer gleicher Perfektion aus einem ungreifbaren Nirgendwo und Überall in die Lautsprecher. Auf profane Weise lässt das Angebot einer von Raum, Zeit und Erdenschwere gelösten Musik die alte Idee einer transzendenten – »absoluten« – Musik Realität werden.
Als technisch produzierter Schein hat dies freilich seinen Preis. Umgekehrt proportional zur Immaterialisierung der Musik im digitalen Datenstrom wächst auch hier die Zahl der Einzeldinge, Stoffe und Güter, die für die Allverfügbarkeit der Musik bewegt oder hergestellt werden müssen. In extremem Kontrast zur Freiheit des isolierten, ortsungebundenen Hörens stützt sich digitales Musikstreaming – unter anderem – auf eine global verzweigte Energie-, Rohstoff- und Warenwirtschaft, die Halbleiterproduktion, den Betrieb riesiger Server-Farmen sowie die Organisation und Aufrechterhaltung des permanenten Datenverkehrs über Satellit oder Unterseekabel und nicht zuletzt auf die Abspielgeräte, die der Hörer bedient.
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