Musikkolumne
Musikgeschichte (nach deren Ende) von Tobias JanzMusikgeschichte (nach deren Ende)
Das Jahr 2012 ist mit zwei scheinbar unverbundenen musikwissenschaftlichen Ereignissen in Erinnerung geblieben. Im Februar 2012 veranstaltete die Princeton University zu Ehren des Musikhistorikers Richard Taruskin (1945–2022) eine Konferenz mit dem Titel »After the End of Music History«. Der Titel spielte an auf eine Formulierung aus dem Vorwort von Taruskins mehr als 4000 Seiten umfassender Oxford History of Western Music (2005): Eine Musikgeschichte des Westens lasse sich als in sich geschlossene Erzählung konzipieren, weil sie nicht nur einen einigermaßen klar konturierten Anfang (die »frühesten Notationen« im 9. Jahrhundert) besitze, sondern sich mit der Krise der »neuen Musik« im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts auch ihr nahendes Ende abzeichne. Für Taruskin legitimierte sich so, von ihrem Ende her, das Unternehmen einer monumentalen Geschichte der (latein)europäisch-nordamerikanischen Musik. Weiterhin freilich mit dem Anspruch verbunden, in Bildungsinstitutionen als Standard der Musikgeschichte zu gelten.
Ebenfalls 2012 erhielt Reinhard Strohm, unter anderem für seine Arbeiten zum Aufstieg der europäischen Musik in der frühen Neuzeit, den hochdotierten Balzan Prize. Strohm widmete ihn und das damit verbundene Fördergeld nicht der Erforschung der europäischen Musikgeschichte, sondern dem Thema »Towards a Global History of Music«. Das daraus hervorgegangene »Balzan Musicology Project« hat in der musikwissenschaftlichen Community Spuren hinterlassen. Gefördert wurden Netzwerke und Einzelprojekte, Ergebnisse von Tagungen erschienen in drei von Strohm herausgegebenen Sammelbänden. Das Spektrum der darin versammelten Fallstudien ist bunt. Ein verbindendes Moment besteht vor allem – wenn nicht allein – darin, dass ihre Gegenstände in dem Sinne global sind, dass sie geografisch und kulturell außerhalb der westlich-europäischen Tradition angesiedelt sind, um die es in Taruskins Musikgeschichte geht.
Die beiden Ereignisse des Jahres 2012 werfen ein Licht auf musikwissenschaftliche Debatten, die zwar inhaltlich konträr scheinen, in denen sich in ihrer Gegensätzlichkeit aber dasselbe Gefühl artikuliert: das Gefühl, dass es in der Musikgeschichte, im doppelten Wortsinn als Geschehen und erzählte Erinnerung, nicht mehr so weitergeht wie bisher. Oder nicht mehr so weitergehen kann.
Musikgeschichte nach deren »Ende« bedeutet, wenn man Taruskins Diagnose zustimmen möchte, sicher nicht das Ende historischer Forschung zur europäischen Schriftkultur der Musik der vergangenen eintausend Jahre. Es kann auch nicht gemeint sein, dass keine »neue« Musik mehr entstünde. Wer kraftvolle Werke wie Mark Andres Im Entschwinden (2022) überhört, die auch heute die Lebendigkeit und Erneuerungsfähigkeit der neuen Musik unter Beweis stellen, verhielte sich ignorant. Bei der Diskussion über Taruskins »Ende« schwingt gleichwohl der Gedanke mit, dass Musikgeschichte des »Westens« in der globalisierten Welt des frühen 21. Jahrhunderts zunehmend zur Geschichte von etwas Vergangenem wird.
Darin unterscheidet sich seine Prophezeiung von Fukuyamas End of History, in dem Kritiker Taruskins Modell erkennen wollten. Von einem Sieg der westlichen Musik analog zum (vermeintlichen) Sieg von Liberalismus, Demokratie und Kapitalismus ist bei Taruskin nirgendwo die Rede, nicht einmal mit Blick auf die angloamerikanische Popmusik auf ihrem globalen Siegeszug nach 1950. Hinter dem gefühlten Ende steht vor allem wohl der Eindruck, in ein neues globales Zeitalter einzutreten, für das tradierte Denkmodelle wenig Orientierung bieten.
Wenn Geschichte ihren Ausgangs- und Zielpunkt in der Gegenwart hat, bedarf es dann nicht auch einer neuen Erzählung der Vergangenheit?
Strohms in die Zukunft projiziertes »towards« adressiert von vornherein die globalisierte Gegenwart, vor der Taruskin haltmacht. Sicher auch mit Blick auf ein Klima, in dem Pluralität, Inklusivität und Diversität (heftig umstrittene) gesellschaftliche Normen sind. In der Konstellation aus wahrgenommenem Ende und proklamiertem Neuanfang Anzeichen für einen anstehenden oder bereits erfolgten Paradigmenwechsel in der Musikwissenschaft zu sehen, wäre jedoch verfrüht. Bei näherer Betrachtung entsteht vielmehr das Bild einer innerlich gespaltenen Disziplin.
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