Heft 919, Dezember 2025

Musikkolumne

Stimme von Tobias Janz

Stimme

I

Es ist merkwürdig und gleichzeitig erklärbar, dass in so gut wie keiner geläufigen Definition von Musik die Stimme am Anfang steht. Merkwürdig, da kaum etwas so eng mit unserem Alltagsverständnis von Musik verbunden sein dürfte wie das über alle kulturellen, sozialen und altersmäßigen Grenzen verbreitete Singen: Populäre Musik ist fast ausnahmslos gesungene Musik; Kleinkinder singen; bei fortgeschrittener Demenz kann gerade das Singen Zugänge zu verschütteten Langzeiterinnerungen öffnen; und anders als das Sprichwort es will, haben bekanntlich selbst böse Menschen Lieder.

Eine Erklärung für die Absenz der Stimme in den Definitionen ist, dass Musik sich die Stimme mit der Sprache teilt, sie also nicht spezifisch genug ist, um eine Definition zu tragen. Musik umfasst zudem mehr und anderes, als was die Stimme zu ihr beiträgt – rhythmisierten Klang, Melodie, Harmonie, Klangfarbe, leibkörperliche Bewegung. Auch Musikphilosophien, denen es um grundlegende Bestimmungen der Musik geht, beginnen daher kaum je mit der Stimme. Abstraktere, allgemeinere Kategorien wie Ton oder Zeit stehen hier am Anfang – oder solche, die die Aufmerksamkeit auf die musikalische Interaktion richten wie Ausdruck, Sinn und Verstehen.

Einige große Ausnahmen gibt es freilich. Man findet sie dort, wo es nicht allein um Definitionen und begriffliche Unterscheidungen geht, sondern um den Ursprung der Musik, um ihre historischen Anfänge. So greift Jean-Jacques Rousseau in seinem postum erschienenen Essai sur l’origine des langues (begonnen 1755), bekannt geworden unter anderem durch Jacques Derridas ausführliche Dekonstruktion im Rahmen seiner Theorie der Schrift, die antike Vorstellung einer Gleichursprünglichkeit von Musik und Sprache auf. Rousseau behauptet für beide, Musik und Sprache, einen genealogischen Primat der Stimme, was im einen Fall Vorrang der gesprochenen Sprache vor der Schrift, im anderen Vorrang der gesungenen Melodie vor der Harmonie bedeutet. Man kann Rousseaus Essai musikgeschichtlich vor dem Hintergrund seiner musikalischen Schriften, den Beiträgen zur Encyclopédie und seinem Dictionnaire de musique (1768), und dem seiner Polemik gegen Jean-Philippe Rameau, den berühmten Komponisten und Begründer der modernen Harmonielehre, lesen. Seine musikästhetische Bedeutung liegt in dem, was Rousseau zum Verhältnis von Musik und Sprache sagt und wie sich dies zu unserem heutigen Wissen über die Anfänge der Musik verhält.

Sprache ist für Rousseau, was den Menschen vom Tier unterscheidet. Musik ist der Sprache wesensverwandt, denn ursprünglich waren beide ein und dasselbe Artikulationsmedium. Der zivilisatorische Fortschritt, für Rousseau eine Verfallsgeschichte, ließ sie auseinandertreten und veränderte sie so, dass es irgendwann den Anschein haben konnte, als handele es sich um unabhängige Phänomene. Rousseau erklärt sich die Genealogie der archaischen Singsprache funktional: Die ersten Menschen hätten noch keine Sprache benötigt, für die Befriedigung ihrer Elementarbedürfnisse reichten Gesten und unartikulierte Laute. Erst die über den Erdball verstreute Menschheit war auf sprachliche Kommunikation angewiesen, und zwar zunächst nicht als rationales Verständigungsmittel, sondern zum Ausdruck elementarer Leidenschaften (»l’amour, la haine, la pitié, la colère«). Die affektive Protosprache wird dann auch nicht von grammatischen Regeln zusammengehalten, entscheidend ist der musikalische »accent« – subtile melodisch-klangliche Beugungen (»inflexions«) und Konturierungen der Rede, mit der sich die artikulierte Sprache von den unartikulierten Lauten der ersten Hominiden abgehoben habe.

Der Ursprung von Musik und Sprache hängt bei Rousseau mit der Vergesellschaftung des Menschen zusammen, der zivilisatorische Fortschritt bedeutet für beide aber auch ihre fortschreitende Degeneration. Hier berührt sich der Essai mit den politischen Schriften Rousseaus. Sprache wird konsonantisch und grammatisch, methodisch und schriftlich, Musik verliert durch Berechnung von Intervallen, durch Verringerung ihres tonartlichen Reichtums und Einführung harmonischer Prinzipien ihre Kraft und Intensität.