Heft 913, Juni 2025

Musikkolumne

Hören von Tobias Janz

Hören

Das erste Viertel des 21. Jahrhunderts hat musikalisch wenig Neues, Profiliertes hervorgebracht. Zu wenig, um von einer Epochenschwelle zu sprechen, die der früherer Jahrhundertwenden vergleichbar wäre. Während das frühe 20. Jahrhundert Schlagworte wie Atonalität, Jazz, Rundfunk, Grammophon, neuer Klassizismus oder Maschinenmusik hinterlassen hat, alle mit lange nachwirkenden Diskontinuitäten verbunden, wird das frühe 21. vielleicht mit einer stillen musikalischen Revolution in Erinnerung bleiben. Still, weil sie sich vor allem im Bereich des Hörens vollzogen hat und weiterhin vollzieht.

Die Statistiken des Deutschen Musikinformationszentrums geben Anhaltspunkte.1 2019, vor der Pandemie, hatte der Konzertmusiksektor mit etwas mehr als einem Drittel des Umsatzes eine ökonomisch leicht dominierende Position innerhalb der Musikwirtschaft inne. Weit verbreitet (mit 21 Prozent) und zunehmend beliebt ist das Amateurmusizieren, wenn auch bei ungleicher Alters- und Schichtenverteilung. Eine Präferenz für das Hören von Livemusik lässt sich daraus allerdings nicht ableiten. Das vergleichsweise sehr teure einmalige Konzerterlebnis und das liebevoll betriebene Laienmusizieren konkurrieren mit einem Tonträgerhören, dessen Attraktivität auf der Mühelosigkeit unbegrenzter Wiederholung beruht, heute im Zusammenspiel tragbarer Abspielgeräte mit einem idealerweise unlimitierten Internetzugriff. Praktisches Musizieren muss sich in einer Musiklandschaft behaupten, deren Normalfall ein ubiquitärer Tonträgerkonsum ist.2

Für den Tonträgermarkt belegt die Statistik im selben Zeitraum eine weitgehende Verdrängung der physischen Tonträger durch die nichtphysischen digitalen. Ohne physische Tonträger, von Caruso auf Schellackplatte über die Jukebox und die Studios für elektronische Komposition der 1950er zum Mixtape der 1980er Jahre, wäre das 20. Jahrhundert musikalisch und musikgeschichtlich ein anderes gewesen. Lag ihr Anteil am Umsatz 2003 noch bei 93 Prozent, schrumpfte er 2024 laut einer aktuellen Mitteilung des Bundesverbands Musikindustrie auf 15,9 Prozent. Der der nichtphysischen wuchs von ein Prozent im Jahr 2004 auf 84,1 Prozent. Innerhalb der digitalen Tonträger lag der Anteil des Streamings gegenüber Downloads und sonstigen Formen 2024 bei knapp 93 Prozent.3 Ein Effekt dieser Verdrängung ist, dass sich die physischen Tonträger in Form einer hochpreisigen audiophilen Vinyl-Kultur heute mit Strategien auf dem Markt zu behaupten versuchen, die denen ähneln, mit denen sich die auf das singuläre Event ausgerichtete Konzertmusik von der »Konserve« absetzt.

Musik hören heißt heute also vor allem Musik streamen. Von einer Revolution zu sprechen wäre angemessen, wenn der rasante Medienwechsel nicht nur die Organisation des Konsums beträfe, sondern das Hören selbst grundlegend veränderte. Allein der Boom an Arbeiten zum Hören, den die Musikwissenschaft seit einigen Jahren erlebt,4 deutet darauf hin, dass sich hier tatsächlich etwas verschiebt.

Hörgeschichtlich aufschlussreich ist die Semantik des mittlerweile eingedeutschten Worts »streamen«. Laut aktueller Auflage des Duden bezeichnet es einerseits eine Übertragungstechnologie, andererseits ein durch sie ermöglichtes Ansehen oder -hören von Video- oder Audioinhalten. Es mag spitzfindig erscheinen, diesen Doppelsinn beim Wort zu nehmen, also den Umstand, dass für den Sprachgebrauch Abspielen und Hören beim »Streaming« offenbar in eins fallen, Senden und Empfangen ein und derselbe Vorgang sind, oder es sein können.

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