Heft 910, März 2025

Nach der Ko(h)lonisation

von Tobias Adler-Bartels

I

In sehr verdichteter Form verweisen viele Sprachbilder zur deutschen Einheit – friedliche Revolution, Wende, Wiedervereinigung, blühende Landschaften oder Anschluss – auf bestimmte Konflikterzählungen und rekurrieren dabei auf historische Erfahrungsräume sowie mögliche Erwartungshorizonte. Von Beginn an war auch die Rede von der »Kolonisation« der DDR beziehungsweise Ostdeutschlands Teil dieser Vereinigungserzählungen, wenn etwa bei den Protesten in ostdeutschen Metropolen Transparente mit der Losung »Keine Ko(h)lonialisierung der DDR!« geschwenkt wurden oder die Kali-Werker von Bischofferode im Rahmen ihres öffentlichkeitswirksamen Arbeitskampfs gegen die von der Treuhand beschlossene Stilllegung ihrer Schachtanlage am Maifeiertag 1993 ihr Bundesland als eine »Kolonie« des Westens bezeichneten.1

Das Schlagwort der Kolonisation beziehungsweise Kolonialisierung brachte die Ohnmacht vieler Bürgerinnen und Bürger in diesem Transformationsprozess zum Ausdruck, die in manch westdeutschen Stellungnahmen zudem Nahrung fand. So behauptete der Publizist Arnulf Baring, die Menschen in der DDR hätten »einfach nichts gelernt, was sie in eine freie Marktgesellschaft einbringen könnten«, und forderte deshalb »eine langfristige Rekultivierung, eine Kolonisierungsaufgabe, eine neue Ostkolonisation, obwohl man das öffentlich fast nicht sagen kann«.2

Mittlerweile haben (post)koloniale Theorieelemente auch Eingang in die Untersuchungen zum Wandel der ost-, west- und gesamtdeutschen Mentalitäten sowie zu identitätspolitischen Konflikten gefunden. Sei es das an den Begriff der (kolonialen) Rassifizierung angelehnte Konzept der »Ossifizierung« oder die im Anschluss an die Critical Whiteness Studies adaptierte Idee einer »Critical Westness« – postkoloniale Deutungsmuster sind en vogue, wenn es darum geht, die diskurs- und hegemonietheoretischen Dimensionen des unabgeschlossenen Vereinigungsprozesses zu ergründen.3

Jüngstes und prominentestes Beispiel ist die Polemik Der Osten: eine westdeutsche Erfindung (2023) des Leipziger Literaturwissenschaftlers Dirk Oschmann, der sich an Edward Said orientiert, um die Machtasymmetrien innerhalb des Ost-West-Verhältnisses zu beschreiben und den Osten als eine permanent (re)produzierte Konstruktion westdeutscher Deutungseliten auszuweisen.4 Der Soziologe Steffen Mau hat auf die empirischen Defizite dieser Othering-These verwiesen und zugleich den grundlegenden Verdacht geäußert, dass es sich bei den Kolonialisierungserzählungen sowie der Adaption postkolonialer Konzepte eher um eine Form der Selbstviktimisierung handele. Es gehe dabei nicht zuletzt darum, »ostdeutsche Erfahrungen mehr oder weniger gleichberechtigt ins Register anderer Diskriminierungskategorien einzutragen«.5 In die gleiche Kerbe schlägt der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, der die (post)kolonialen Narrative lediglich als strategisches Mittel betrachtet, um den depravierten Status des Konstrukts »Ostdeutsche« festzuschreiben.6

II

Zunächst einmal muss die Rede von der Kolonialisierung Ostdeutschlands irritieren; schließlich handelt es sich um die paradoxe Form eines Kolonialismus ohne Kolonisierte, hatte doch die Bevölkerung der DDR nach dem gewaltfreien Aufstand gegen die SED-Diktatur selbst in freien Wahlen für die Vereinigung mit Westdeutschland votiert. Als eine freiwillige »Selbstentmachtung in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Selbstermächtigung« beschreibt das Steffen Mau und betont die sehr unterschiedlichen Erwartungen und Hoffnungen innerhalb der ostdeutschen Gesellschaft.

Schließlich hatte deren Bevölkerung diese Umbruchphase zum allergrößten Teil in weitgehend passiver Haltung hingenommen; lediglich eine mutige Minderheit war in der Oppositionsbewegung aktiv, aus der dann die Impulse für eine demokratische Revolution entsprangen. Die kurze, aber sehr intensive gesamtdeutsche Debatte über die Gretchenfrage der Einheit – »Beitritt« der neuen Bundesländer nach Artikel 23 Grundgesetz oder Verabschiedung einer gesamtdeutschen Verfassung nach Artikel 146 – wurde letztlich durch die Regierung Kohl mit Verweis auf das geopolitische »window of opportunity« entschieden.7 Die Regierung de Maizière hat das akzeptiert. In seinem Nachruf auf ein Nicht-Ereignis kritisierte der Politologe Wolf-Dieter Narr diese verpasste Chance sowie die fehlende Weitsicht »der etablierten verfassungspolitischen Indolenz« und warnte vor den daraus resultierenden Enttäuschungen der ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger, »die den Zeiten- und sog. Systemwechsel zu einem guten Teil nur als Wechsel des herrschaftlichen Bezugsrahmens erfahren« konnten.8

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