Nach der Zäsur
Versuch eines vorausschauenden Rückblicks auf die documenta 15 von Georg SimmerlVersuch eines vorausschauenden Rückblicks auf die documenta 15
Unter dem Eindruck des terroristischen Massakers in Südisrael und seiner Folgen hat die hinter der Kasseler »Weltkunstschau« documenta stehende gGmbh am 17. und 18. November 2023 ein Symposium über deren fünfzehnte Ausgabe abgehalten. Im Jahr 2022 sei diese, so der Ankündigungstext, zum »Brennpunkt einer Debatte über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus« geworden. Die Konferenz, die lange vor dem 7. Oktober vom documenta-Institut unter der Leitung des Soziologen Heinz Bude konzipiert worden war, hatte sich ursprünglich das Ziel gesetzt, von der documenta 15 aus auf ihre Nachwirkungen in Kunst, Politik und Öffentlichkeit zu schauen – man könnte also sagen: einen vorausschauenden Rückblick auf sie zu wagen. Der heute vielleicht gewagt klingende Titel der Veranstaltung: »Die documenta fifteen als Zäsur?«
Verschärfung des Meinungsklimas
Dass aber auch für die documenta weniger ihre heiß debattierte Ausgabe von 2022, sondern vielmehr die jüngsten Ereignisse in Israel und Palästina zu einer Zäsur geworden sind, hatte sich bereits im unmittelbaren Vorfeld des Symposiums abgezeichnet – genauso wie der Umstand, dass sich die zugrundeliegenden Probleme und ihre Verhandlungsweisen dennoch nicht geändert haben. Aus der Findungskommission für die künstlerische Leitung der documenta 16 war am 10. November 2023 zunächst die israelische Künstlerin Bracha L. Ettinger zurückgetreten. Ettingers Bitte, angesichts des jüngsten Gaza-Kriegs den Findungsprozess zu verlangsamen, um ihr eine weitere Teilnahme zu ermöglichen, hatte die Geschäftsführung, die schon mit ihrer Besetzung am Anfang der letzten documenta nicht durch Umsicht aufgefallen war, mit Verweis auf organisatorische Gründe abgelehnt.
Zwei Tage nach Ettinger war auch der indische Dichter und Kurator Ranjit Hoskoté zurückgetreten, weil er es seinerseits gegenüber der Geschäftsführung ablehnte, sich von den Inhalten einer Petition zu distanzieren, die er 2019 unterzeichnet hatte. Die Petition mit dem Titel BDS India, von der Süddeutschen Zeitung am 9. November 2023 zu öffentlichem Bewusstsein gebracht, hatte unter anderem den Zionismus »eine rassistische Ideologie« genannt, die einen »siedlerkolonialistischen Apartheidstaat« verlange. Die Petition war etwa von Kulturstaatsministerin Claudia Roth als »ganz klar antisemitisch« eingeschätzt worden, Hoskoté beharrte dagegen auf der Unterscheidbarkeit von Antizionismus und Antisemitismus.
In jedem Fall war man damit zurück in jenen Problemkreis gelangt, der schon die deutsche Debatte um die documenta 15 unter der künstlerischen Leitung des indonesischen Kollektivs ruangrupa bestimmt hatte – nämlich: wie (israelbezogener) Antisemitismus zu erkennen und mit der breiten Unterstützung für die antiisraelische BDS-Bewegung (Boycott, Divestment, Sanctions) in der globalen Kunstszene umzugehen ist. Hatte die Debatte um die fünfzehnte Ausgabe der documenta noch nicht dazu geführt, dass ihre weitere Ausrichtung ernsthaft infrage gestanden hätte, so war dieser Punkt dann aber einen Tag vor dem Symposium erreicht, als schließlich auch die vier restlichen Mitglieder der Findungskommission zurücktraten.
Seit der documenta 15 herrsche, so einer der von ihnen für diesen Schritt angeführten Gründe, ein »emotionales und intellektuelles Klima« in Deutschland, das nach seiner jüngsten Verschärfung nicht mehr daran glauben lasse, dass dort noch »Raum […] für einen offenen Austausch von Ideen und die Entwicklung komplexer und nuancierter Ansätze in der Kunst« sei – und darin konnte man auch manche Reaktionen ruangrupas auf die vielen Antisemitismusvorwürfe nachhallen hören, die sie als Bemühungen einer letztlich rassistischen Zensur gebrandmarkt hatten. Umso gespannter durfte man sein, ob auf dem Symposium auch eine nochmalige Verschärfung des Meinungsklimas in Deutschland festgestellt werden würde und wie sich die dort angestellten Betrachtungen der documenta 15 dazu verhielten.
Blickverengung
Zuvorderst beschäftigten natürlich auch das Symposium die Folgen des Hamas-Terrors, es befasste sich vor allem mit den diskursiven Verwerfungen, die ihm gefolgt waren, und erst nachgeordnet mit der documenta 15. Heinz Bude, der die vier Gesprächsrunden moderierte, führte ihre vorgesehenen thematischen Rahmungen, die zur Nachbetrachtung der letzten documenta unter vier unterschiedlichen Rezeptionsaspekten angehalten hätten, jeweils erst gar nicht aus. Die personelle Zusammensetzung der Podien, die schon vor dem 7. Oktober 2023 festgesetzt worden war, könnte man dagegen als hellsichtiges Statement begreifen. Auf der Bühne diskutierten allein deutsche und deutsch-israelische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – mit einer Ausnahme: dem Österreicher Thomas Macho. Der »Globale Süden« war nur als Begriff anwesend, dessen Unzulänglichkeit festgestellt wurde. Und Vertreter der globalen Kunstszene suchte man in den Gesprächsrunden ebenfalls vergebens.
Damit war die Befassung mit der documenta 15 einstweilen nicht nur allein den Wissenschaften überantwortet. Mit der Zusammensetzung der Podien schien die Veranstaltungsorganisation zugleich das Repräsentationstableau in den traditionellen Segmenten der deutschen Öffentlichkeit unmittelbar nach den Gräueltaten der Hamas vorausgeahnt zu haben, wo etwa gerade palästinensische Stimmen kaum zu Wort kamen und sich angesichts reihenweise verbotener Demonstrationen, verschobener Preisverleihungen, abgesagter Veranstaltungen und eines sich gegen sie verallgemeinernden Antisemitismusverdachts auch gar nicht mehr äußern wollten, wie die Journalistin Elisabeth von Thadden berichtet hat.
Schon der Fall Hoskoté hatte im Vorfeld des Symposiums neuerlich Rufe laut werden lassen, der Antisemitismus-Skandal auf der documenta 15 müsse nun endlich aufgearbeitet werden. Es liegt allerdings immerhin schon der Abschlussbericht des von der documenta eingesetzten Gremiums zur fachwissenschaftlichen Begleitung vor, das eine nicht immer einhellige Einschätzung zu vier inkriminierten Ausstellungsstücken abgegeben und organisatorische Reformen angeregt, aber eben auch festgestellt hatte, ihr Arbeitsauftrag habe sie nicht zur Erforschung der öffentlichen Auseinandersetzung um die documenta 15 in ihrer gesamten Breite angehalten, die etwa auch teils von »rassistischen Untertönen« durchzogen gewesen sei.
In ihren Eröffnungsreden erinnerten die verantwortlichen Personen, allen voran die hessische Wissenschaftsministerin Angela Dorn, an die documenta 15 dann allein als Menetekel eines grassierenden Antisemitismus – Dorn eignete sich eine Bemerkung Fritz Bauers über die Auschwitz-Prozesse an und erkannte in der vorangegangenen Kunstschau nur die Spitze eines Eisbergs, der der gesellschaftliche Antisemitismus sei.