Heft 901, Juni 2024

Neue Normalisten

von Thorsten Holzhauser

Das normale Volk ist wieder da. Wo man hinschaut, reden politisch Handelnde darüber, was »normal« ist und was die »normale Bevölkerung« denkt und fühlt. Die Riege der neuen Normalisten ist bunt: Sie reicht von Friedrich Merz und Jens Spahn über Hubert Aiwanger bis hin zu Sahra Wagenknecht und Alice Weidel. Sie alle erklären sich mit Nachdruck zu Repräsentanten der »normalen Leute«, sie alle wollen »das Volk abholen«, und zwar dort, wo sie es inhaltlich und rhetorisch vermuten. Dabei spielt keine große Rolle, dass kaum einer von ihnen als ganz normaler Bürger in diesem Sinn gelten kann. Während Aiwanger immerhin noch das Volkstümliche des bajuwarischen Landwirts ausstrahlt, passen der Millionär Merz, die promovierte Ex-Kommunistin Wagenknecht und die stets kühl wirkende Unternehmensberaterin Weidel kaum in eine solche Imagination von Volkstümlichkeit. Wichtiger für ihr Auftreten als die eigene Herkunft und soziale Stellung ist ihr gemeinsamer Anspruch, die Wünsche und Gefühle des »normalen Volks« besser als andere zu verstehen und zu garantieren, dass dessen politische Präferenzen zur obersten Richtschnur ihres politischen Handelns werden.

Nun ist die Ausrichtung auf das »Normale« – in Abgrenzung vom »Anormalen« – nicht neu, sondern kann mit Jürgen Link als zentrale Leit- und Ordnungskategorie moderner Gesellschaften gelten. Auch die Tatsache, dass es bei politischem Handeln per definitionem um die Herstellung von Normen geht, ist ebenso unstrittig wie die, dass sich solche Normen in Demokratien grundsätzlich stärker an den Interessen der Mehrheit orientieren sollten als an denen der Minderheit. Der Normalismus in seiner aktuellen, populistischen Ausprägung geht darüber allerdings in doppelter Hinsicht hinaus: Er unterstellt nicht nur, das »normale Volk«, in dessen Namen er zu sprechen vorgibt, sei eine unproblematisch gegebene Größe. Er tut zugleich so, als handele es sich dabei um die maßgebliche Letztinstanz in Hinblick auf die Frage nach der Legitimität politischer Entscheidungen. Damit unterscheidet sich der neue Normalismus nicht nur von seinen historischen Vorläufern. Er tritt auch mit einem autoritären Anspruch auf, der nur durch die gesellschaftliche Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte verständlich wird – versteht er sich doch als Gegenbewegung zur Rettung des Normalen vor seiner Auflösung.

Normalismus in der Bundesrepublik

Politischer Normalismus spielte als Ordnungskonzept in der bundesrepublikanischen Geschichte schon immer eine Rolle. Als wichtige Instanz in dieser Hinsicht fungierten lange Zeit die großen »Volksparteien« – ein besonderes politisches Kulturgut der Bonner Republik. Mit ihrem breiten Integrationsanspruch bei gleichzeitiger Gravitation zur politischen Mitte waren sie immer auch Normalitätsproduzenten: Wie in den Volksparteien gedacht und geurteilt wurde, konstituierte in hohem Maße das, was als politisch normal und damit legitim angesehen wurde – in Abgrenzung zum Anormalen, das sich in der bundesdeutschen Demokratie typischerweise mit dem Begriff des Extremismus verband. Während Extremisten schon von der Wortbedeutung her nicht als normal gelten konnten, beanspruchten die Parteien der Mitte, indem sie sich so nannten, eine besondere Repräsentation für die Mitte des Volkes und ihre Bedürfnisse – ein Selbstverständnis, das bis heute nachwirkt.

Dieser populäre, tendenziell konservative Normalismus blieb in der bundesdeutschen Geschichte allerdings nicht frei von Spannungen. In der Studentenbewegung der sechziger und der neuen Linken der siebziger Jahre bekam das Normale »Mundgeruch«, wie es Hans Magnus Enzensberger später ausdrückte. Viele Sitten und Denkweisen der »normalen« Bevölkerung, die bis dahin auch den Wertehorizont der Volksparteien geprägt hatten, vom sonntäglichen Kirchgang bis zur bürgerlichen Ehe, galten Teilen der jungen Generation als »klein-« und »spießbürgerlich« und als repressiv. Zugleich nahm der Anteil jener Bevölkerungsgruppen zu, die eben nicht mehr die gedachten und gelebten Normalitäten der Nachkriegszeit von deutscher Herkunft, bürgerlicher Kernfamilie, stabiler Ehe und industriell-fordistischer Normalarbeit repräsentierten.

Aus der »transnormalistischen« (Jürgen Link) Infragestellung des Normalen entwickelte sich ein neues, flexibleres Normalitätsregime: Homosexualität und vorehelicher Sex wurden »normaler«, während gewisse kirchliche Normen wie das Zölibat oder das Verbot von Präservativen in der hegemonialen Kultur als immer weniger normal empfunden wurden. Gegen diesen Wertewandel, der einigen als Wertverlust vorkam, stemmten sich in den 1980er Jahren vor allem die Unionsparteien und ihr Umfeld. Die von ihnen ausgerufene »Wende« war auch der Versuch, traditionelle Normalitätsvorstellungen zu re-etablieren. Je weniger das »normale Volk« noch als homogene Gruppe greifbar war, desto demonstrativer wurde der bürgerliche Normalismus betont.

Daran änderte die deutsche Vereinigung zunächst wenig. Während das Feuilleton in den neunziger Jahren Debatten über das Ende deutscher Sonderwege und die Rückkehr in das Konzert »normaler« Nationen führte, wurden etablierte Normalitätsvorstellungen nach innen gestärkt. Auf der einen Seite sollten aus den anders gearteten Ostdeutschen ganz normale Bundesbürger nach westlicher Lesart werden, auf der anderen Seite florierten in Ostdeutschland eigene Identitätsbildungen, für die das Bekenntnis eine zentrale Rolle spielte, zu den »ganz normalen Leuten« zu zählen.

Die deutsche Vereinigungsgesellschaft wiederum grenzte ihre neugewonnene nationale Normalität gegen Nichtvolkszugehörige ab. In den Asyldebatten der frühen neunziger Jahre musste das »Volksempfinden« des latent xenophob gedachten Durchschnittsbürgers als Maßstab für politisches Handeln herhalten. Rechte Mobs in Springerstiefeln wurden mehrheitlich als Abweichung von der Normalität empfunden. Dass sich aber auch das »normale« Deutschland vor Überforderung und Überfremdung fürchtete, wurde zur gefühlten Wahrheit und sodann zum archimedischen Punkt des politischen Diskurses, der schließlich zum »Asylkompromiss« von 1993 führte. Dieser wurde prominent und wiederholt mit den Forderungen begründet, die »ganz normale Menschen wie Sie und ich« an die Politik herantrugen, wie es der Abgeordnete Wolfgang Ehlers in der entscheidenden Bundestagsdebatte ausdrückte. Um deren »Ängsten und Sorgen« zu entsprechen, schränkten Union, FDP und SPD die Rechte der nichtnormalen Bevölkerungsteile ein, namentlich jener, die um Asyl baten.

Transnormalismus

So sehr also das »normale Volk« mit seinen Denkweisen im Zentrum politischer Überlegungen blieb, so sehr wuchsen im vereinten Deutschland doch die Zweifel, ob dieses Begriffspaar im 21. Jahrhundert noch eine Zukunft haben könnte. Mit dem Antritt der rot-grünen Regierung Schröder im Jahr 1998, vom neuen Kanzler selbst als »Ausdruck demokratischer Normalität« apostrophiert, erlebte die publizistische Debatte über die »neue Normalität« der Berliner Republik einen Höhepunkt – zumal die neue Koalition mit ihrem Staatsbürgerschaftsgesetz und ihrem Zuwanderungsgesetz als überholt empfundene Vorstellungen davon, was das deutsche Volk definiert, herausforderte und zu reformieren bereit war.

Möchten Sie weiterlesen?

Mit dem Digital-Abo erhalten Sie freien Zugang zum gesamten MERKUR, mit allen Texten von 1947 bis heute. Testen Sie 3 Monate Digital-Abo zum Sonderpreis von nur 9,90 Euro.

Jetzt Probelesen

Weitere Artikel des Autors