Nie zu viel
Martin Wolf und wie er die Welt sieht von Trevor JacksonMartin Wolf und wie er die Welt sieht
Etwas ist ganz furchtbar schiefgegangen. In seinem Buch Why Globalization Works von 2004 schrieb der Wirtschaftsjournalist Martin Wolf, die »liberale Demokratie« sei »das einzige politische und ökonomische System, das nachhaltigen Wohlstand und politische Stabilität hervorbringen« könne. Damit hat er dem allgemeinen Konsens der Eliten der damaligen Zeit Ausdruck gegeben, dem Glauben daran, dass der liberale demokratische Kapitalismus nicht nur eine kohärente Form der gesellschaftlichen Organisation, sondern gar die bestmögliche ist – wie der Sieg des Westens im Kalten Krieg demonstrierte. Er fügte hinzu, dass Kritiker, die »sich beschweren, dass Märkte Amoral fördern und gesellschaftlich unmoralische Konsequenzen wie massive Ungleichheit nach sich ziehen, im Wesentlichen falsch« lägen. Er kam zu dem Schluss, dass eine Marktwirtschaft das einzige Mittel dazu sei, »Individuen die Gelegenheit zu geben, das zu suchen, was sie im Leben ersehnen«.
Wolf schrieb diese Worte mitten in der vier Jahrzehnte andauernden globalen Marktexpansion. Während der 1990er Jahre hatten die von Margaret Thatcher, Ronald Reagan und François Mitterand in Großbritannien, den USA und Frankreich geführten Regierungen die Privatisierung öffentlicher Güter und Dienstleistungen, die Streichung wohlfahrtsstaatlicher Vorsorge und die Deregulierung der Märkte durchgesetzt. Gleichzeitig brachte ein Bündel von zehn Maßnahmen, das unter dem Namen »Washington Consensus« bekannt wurde (weil sich IWF, Weltbank und US-Finanzministerium einig waren), nach einer Reihe von Staatsschuldenkrisen Privatisierung, Liberalisierung und Globalisierung auch nach Lateinamerika. In den 1990er Jahren transformierte ein ähnliches Bündel, damals als »Schocktherapie« bekannt, die früheren kommunistischen Ökonomien plötzlich in freie Märkte. Rund um den Globus, und ganz besonders in den sich rasant industrialisierenden Ländern Ostasiens, brachten nach der Finanzkrise von 1997 politische Maßnahmen zur »Strukturanpassung«, die der IWF zur Voraussetzung für Rettungspakete machte, ebenfalls Liberalisierung, Privatisierung und Haushaltsdisziplin. Ganz dieselben Maßnahmen wurden nach 2009 in der europäischen Peripherie, in Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien, erneut durchgedrückt, entweder als Bedingung für Rettungspakete oder durch fiskale Restriktionen der EU oder eine restriktive Politik der Europäischen Zentralbank. Heute finden sich in allen Bereichen des menschlichen Lebens weitaus mehr Märkte als jemals zuvor.
Der nachhaltige Wohlstand und die politische Stabilität, die diese Maßnahmen schaffen sollten, haben sich als flüchtig erwiesen. Die globale Wirtschaft hat seit den achtziger Jahren manche Erschütterung durch Finanzkrisen erlebt. Lateinamerika hat ein »verlorenes Jahrzehnt« ohne Wachstum durchlitten. Die neunziger Jahre in Russland waren schlimmer als die Depression der zwanziger und dreißiger Jahre in Deutschland und den Vereinigten Staaten. Die Austeritäts- und Hochzinspolitik nach der Krise von 1997 in Ostasien hat die finanzielle Stabilität wiederhergestellt, aber um den Preis von Rezessionen, was zu politischer Instabilität und der Abwahl der regierenden Parteien in Indonesien, den Philippinen und Südkorea beitrug. Ganz Ähnliches geschah dann wieder nach 2009/10. Die Wachstumsraten weltweit lagen in der Ära der Globalisierung etwa halb so hoch wie in den weniger globalisierten Nachkriegsjahrzehnten. Rund um die Welt gewinnen brutale rassistische Demagogen die Wahlen, und so sehr sie mit der Idee des Privateigentums sympathisieren, so wenig halten sie von Rechtsstaatlichkeit, politischem Liberalismus, Freiheit des Individuums und anderen angeblichen Voraussetzungen und kulturellen Begleitumständen der Marktwirtschaft. Sowohl die Demokratie als auch die Globalisierung scheinen in der Praxis wie ideologisch auf dem Rückzug. Oder, wie Wolf in seinem neuen Buch, The Crisis of Democratic Capitalism, schreibt: »Unsere Ökonomie hat unsere Politik destabilisiert, und umgekehrt. Es gelingt nicht mehr, die Operationen der Marktwirtschaft mit stabilen liberalen Demokratien zu kombinieren. Ein Hauptgrund dafür ist die Tatsache, dass die Wirtschaft nicht die Sicherheit und den weitreichenden Wohlstand liefert, die große Teile der Gesellschaft erwarten. Ein Symptom dieser Enttäuschung ist der massive Vertrauensverlust gegenüber Eliten.« Was ist geschehen?
Martin Wolf ist wahrscheinlich der einflussreichste Kommentator der Ökonomie in der englischsprachigen Welt. Er ist seit 1987 der Chef-Leitartikler der Financial Times, seit 1996 ihr leitender Wirtschaftsanalyst. Er hatte Ökonomie in Oxford studiert, ab 1971 bei der Weltbank gearbeitet, davon drei Jahre als leitender Ökonom, ein Jahr lang saß er an dem 1978 veröffentlichten ersten World Development Report. Dies ist sein fünftes Buch seit dem Wechsel zur Financial Times. Die Blurbs und Danksagungen sind gespickt mit den Namen von Zentralbankern, Financiers, Nobelpreisträgern und akademischen Celebrities. Die Bibliografie enthält 69 Verweise auf Martin Wolf selbst.
Wolfs Diagnose lässt sich unmöglich bestreiten: »Weder Politik noch Ökonomie werden ohne ein substantielles Maß an Ehrlichkeit, Vertrauenswürdigkeit, Zurückhaltung, Wahrhaftigkeit und der loyalen Bindung an geteilte politische, rechtliche und andere Institutionen funktionieren.« Aber all diese Werte sind, wie er feststellt, in der ganzen Welt in die Krise geraten. Insbesonders seit 2008 »haben die Menschen das Gefühl, dass das Land nicht für sie regiert wird, sondern für ein schmales Segment gut vernetzter Insider, die die meisten Gewinne abschöpfen und, wenn etwas schief geht, nicht nur gegen die Verluste abgeschirmt sind, sondern allen anderen auch noch massive Kosten aufbürden«. Wolf beschreibt detailliert die fehlgeleitete Austeritätspolitik in den USA und Europa, den Aufstieg eines verschwenderischen und extraktiven Finanzsektors, die Atomisierung und Verelendung einst gewerkschaftlich abgesicherter Arbeiter, die Allgegenwart der Steuervermeidung und -flucht sowie das sich über Jahrzehnte akkumulierende Versagen der Eliten.
Den meisten ist nicht verborgen geblieben, »dass dieses Versagen nicht einfach das Ergebnis von Dummheit ist, sondern der intellektuellen und moralischen Korruption der Entscheider und Meinungsmacher auf allen Ebenen – im Finanzsektor, in den Regulierungsbehörden, der Wissenschaft, den Medien und der Politik«. Deshalb die Konklusion: »Ohne ethische Eliten wird Demokratie zu einem demagogischen Spektakel, hinter dem sich eine plutokratische Realität verbirgt. Das ist zugleich ihr Tod.« Vierzig Jahre der Korruption unserer plutokratischen Eliten haben nun zu etwas geführt, das Wolf als alarmierende populistische Reaktion betrachtet. Die Wähler, und ganz besonders die jungen in den Kernländern des demokratischen Kapitalismus, haben den Glauben an die Macht der Märkte und des Liberalismus verloren. Ernstzunehmende internationale Rivalen sind aufgetaucht, in Gestalt eines »demagogischen autoritären Kapitalismus« in Ländern wie der Türkei und Russland und eines »bürokratischen autoritären Kapitalismus« in China. Wolf betrachtet diese Systeme, anders als frühere Systemrivalen wie den Kommunismus, als ernstzunehmende Bedrohungen. Der liberale demokratische Kapitalismus ist in Gefahr, von innen wie auch von außen.
Es ist ein düsteres Bild, und eines, dem so ziemlich jeder Leser, egal welcher politischen Ausrichtung, zustimmen kann. Für Wolf jedoch verlangen diese epochalen globalen Krisen keinen radikalen Wandel. Das Motto des Buches (wie er es formuliert) lautet »Nie zu viel«, und er behauptet, dass »Reform nicht Revolution ist, sondern das Gegenteil«. Er zeigt durchgehend Verachtung für jede Form struktureller Veränderung, sieht immer gleich den Despotismus als Ergebnis utopischen Denkens und zitiert Edmund Burke über die Unmenschlichkeit und Unmöglichkeit, eine Gesellschaft auf dem Boden von Grundprinzipien neu zu errichten.
Was er bevorzugt, ist »kleinteiliges Social Engineering«, eine Idee, die er von dem unkonventionellen libertären Philosophen Karl Popper übernimmt und die er so deutet, dass es dabei um »Veränderungen zur Heilung spezifischer Übel« geht. Seine zielgerichteten Lösungsansätze für die spezifischen Übel, die die globale Krise des demokratischen Kapitalismus ausmachen, reichen vom Kraftlosen bis zum Surrealen. Beispielsweise die Idee, »die Kapitalflussrechnungen des öffentlichen Sektors durch ausgearbeitete Bilanzen und Abgrenzungskonten« zu ergänzen, oder die Anforderung für Unternehmen, »exzellente Buchhaltungsstandards« und sorgfältige, unabhängige Prüfer einzusetzen. Beides absolut begrüßenswert und ja, vielleicht würden sie am Rande dabei helfen, den Griff der Plutokraten zu lösen.