Heft 893, Oktober 2023

Nutzen und Nachteil monumentalischer Demokratiegeschichte

von Manfred Hettling

1988 erschien der erste Band einer Geschichte der SED. Das voluminöse Werk trug den Untertitel Von den Anfängen bis 1917 und begann mit dem Kommunistischen Manifest und der Zeit um 1848. Dieser Band wollte den »Weg« und die »Traditionen« aufzeigen, welche die »Partei für das Wohl der Arbeiterklasse« in die Gegenwart geführt hatte und weiter in die Zukunft tragen sollte in ihrem Ringen um die »Überwindung der kapitalistischen Ausbeutergesellschaft«. Allerdings fielen die restlichen drei Bände dem Zusammenbruch der SED-Herrschaft im Herbst 1989 zum Opfer.

Einen mehr, fünf Bände, die auch alle erschienen, umfasste hundert Jahre zuvor Heinrich von Treitschkes Deutsche Geschichte, geschrieben mit dem Ziel, eine »nationale Geschichtsüberlieferung« zu bieten. Doch kam Treitschke in seiner Darstellung inhaltlich nur bis zu den »Vorboten der europäischen Revolution«, der fünfte Band endet vor dem »Sturm« von 1848. Treitschke starb, bevor er das eigentliche Telos seines historischen Epos, die Nationalstaatsbildung von 1870/71, erreichte. 1848 wiederum beginnt Heinrich von Sybel seine Begründung des Deutschen Reiches unter Wilhelm I – und kommt in sieben dicken Bänden wirklich bis 1870.

Heutzutage boomen weder Darstellungen des Siegeszugs des Sozialismus noch solche vom Werden der Nation. Stattdessen stillen Demokratiegeschichten in unserer Gegenwart das Bedürfnis nach linearen Geschichtserzählungen. Sie stellen die Gegenwart in »Kontinuitäten« mit der Vergangenheit und präsentieren »Geschichtsüberlieferungen« mit einem sinnhaften Geschehensablauf. 2020 erschien, in einem Band, Hedwig Richters Demokratie. Um der »identitätsstiftenden Funktion« gerecht zu werden, lässt sie »Bösewichte und Heldinnen« – und wohl auch Helden und Bösewichtinnen – auftreten. Der »chronologische Plot« führt zu einem Ende, das zwar nicht feststehe, wie sie anmerkt, aber »vermutlich« hell sei.

Gemeinsam ist diesen sozialistischen, nationalen oder nun demokratischen Erzählungen erstens die Linearität der Konstruktion und der erzählenden Darstellung, die Beschreibung eines mehr oder weniger langen Weges bis zur Gegenwart. Zweitens die Orientierung am »Leitfaden eines Prinzips«, durch welches Geschehnisse und Folgen in einen Zusammenhang gebracht und, mal explizit, mal implizit, auf einen Sinn bezogen werden können. In welcher der Varianten die Geschichte aber auch erzählt wird, die theoretischen Probleme sind dieselben. Die Gegenwart wird als mehr oder weniger vollzogene »Erfüllung« dessen präsentiert, was vom Früheren, dessen Tradition beschworen wird, intendiert, vorbereitet, versucht, begonnen worden sei. Karl Löwith hat vor Jahrzehnten auf die heilsgeschichtliche Struktur dieses Geschichtsdenkens hingewiesen, er hat die liberalen und sozialistischen Varianten als Säkularisierung christlicher, eschatologischer Vorbilder analysiert – die sich ebenso auch als Nationalgeschichten oder Demokratiegeschichten erzählen lassen.

Das Geschichtsbewusstsein und die Gedenklandschaft sind in Deutschland seit Längerem auf die Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen konzentriert. Karl Heinz Bohrer hat das 2001 in einer immer noch erhellenden Analyse »Naherinnerung« genannt. Die Konzentration darauf verdecke aber zugleich die »Fernerinnerung« an ältere Zeiten, an den weit zurückreichenden Raum der nationalen Geschichte, ja habe diesen weitgehend bedeutungslos werden lassen für das politische Selbstverständnis. Oder, wenn für eine historische Vergewisserung des politischen Selbstverständnisses der Blick zurück auf die Zeit vor 1933 gehe, dann werde diese ältere Vergangenheit unter dem Stichwort des »deutschen Sonderwegs« dominant als Weg zur katastrophischen Nahgeschichte beschrieben. Diese Fixierung auf die Naherinnerung in kritisch-distanzierender Absicht habe eine »Erinnerungslosigkeit« zur Folge, so Bohrer. Denn der »kulturelle Zusammenhang« der Gegenwart mit der Vergangenheit, die »kulturelle Identitätsbildung« werde durch diese Verkürzung des historischen Denkens und die damit verbundene Dominanz eines letztlich ahistorischen »universalistisch-aufklärerischen Prinzips« beeinträchtigt.

In den letzten Jahren zeichnet sich in Deutschland nun eine bemerkenswerte Verschiebung der von Bohrer skizzierten Erinnerungskonstellation ab. Zwei Perspektiven sind hierbei zu unterscheiden, beiden ist gemeinsam, dass sie das bisherige Gefüge von Nah- und Fernerinnerung infrage stellen. Erstens wird, gewissermaßen in einer Verlängerung der Naherinnerung, sehr kontrovers debattiert, ob die Kolonialgeschichte und koloniale Verbrechen im deutschen Geschichtsbewusstsein hinreichend präsent sind.

Theoretisch findet man dabei oft ein entschiedenes Sowohl-als-Auch. Michael Rothberg, Jürgen Zimmerer, Dirk Moses und viele andere wollen einerseits die Einschätzung vom Holocaust als »singulärem« Verbrechenskomplex nicht aufgeben, verwischen aber in »multidirektionalen Erinnerungen« häufig die Differenz zwischen Vergleichen und Gleichsetzen, zwischen Erzählung und Tatsache. Dabei erdrückt die geschichtspolitische Absicht oft die analytische Klarheit. Zweitens versucht die Demokratiegeschichte eine Fernerinnerung, die sich auf eine positiv zu tradierende Geschichte weit vor 1933 bezieht, mit der Gegenwart zu verbinden.

Jedoch wird bisher kaum darüber diskutiert, welche Herausforderungen sich stellen, wenn Demokratiegeschichten eine »Fernerinnerung« mit positivem Gehalt entwerfen und Kontinuitäten oder Traditionen suchen, welche die Zeit des Nationalsozialismus übergreifen. An dieser geschichtspolitischen Umformung wirken viele unterschiedliche Akteure mit, staatliche Repräsentanten, Bildungsinstitutionen, zivilgesellschaftliche Gruppierungen, Einzelpersonen. Das wird in der Zukunft vermutlich noch zu Kollisionen führen, wenn die eingeübte Naherinnerung in distanzierender Absicht, welche für die opferzentrierte deutsche Gedenkkultur konstitutiv ist, in Spannung gerät zur sich abzeichnenden neuen demokratiegeschichtlichen Fernerinnerung in positiver, affirmativer Intention.

Geschichtspolitik wählt aus, verfolgt Absichten und Zwecke – dafür präsentiert sie gereinigte, gefärbte, geschönte Bilder. Das ist ihre Leistung, sie bietet eine Vergangenheit ohne die Widersprüchlichkeiten und das Chaos der Wirklichkeit. Darin ähnelt sie ganz den alten Historienbildern, die aus dem Mythenarsenal der christlichen oder antiken Tradition schöne, meist schaurig-schöne, Beispiele auswählten, die sich in moralisch deutbare Geschichten formen und in volkspädagogischer Absicht popularisieren ließen.

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