O-Saft in Bomarzo
von Pascal RichmannVor knapp vierhundertsiebzig Jahren hatte Vicino Orsini also begonnen, Sacro Bosco anzulegen, seinen Park bei Bomarzo, dessen surreale Skulpturen auf mich nicht dadurch weniger geheimnisvoll wirkten, dass ich ihr Alter während unseres Flugs nach Rom anhand einiger Fotos auf vielleicht hundert geschätzt hatte, eine Naivität, die mir nun, da Tanita und ich in der angenehm kühlen Mundhöhle des Orcus Schutz vor der Mittagshitze suchten, noch einmal deutlich bewusst wurde. Umringt von Tagestouristen setzten wir uns an den steinernen Tisch, zentral ins Gewölbe. Tanita gab mir ein Tetra Pak. Ich freute mich, weil es O-Saft war, und stach den Strohhalm durch das dafür vorgesehene Loch. Trinkend betrachteten wir tennisschuhtragende Silhouetten und die beiden Schneidezähne, unter denen hindurch wir in das Innere gestiegen waren; dahinter, grell gerendert, harkten Parkmitarbeiter verwelkte Blätter vom Weg.
Zum ersten Mal begegnet war ich Tanita vor ein paar Jahren bei einer Weinprobe, zu der uns ein gemeinsamer Freund überredet hatte, auch so eine Sache, die wohl nur in den provinziellen Untiefen Lower Saxonys funktionierte. Der Laden jedenfalls war abwegig, wie eigentlich alle Läden abwegig waren in der Stadt, in der ich damals lebte, kinky eingerichtet und voll aufgekratzt lachender Bürger, kurzum: genau richtig, hatte ich doch gerade erst selbstvergessen in Hinblick auf Acrylamid-Werte unter dem größten freitragenden Holzdach der Welt eine Woche lang Pommes frites frittiert – von denen mir keine einzige zu kross geraten durfte, weil eine goldene Pommes ja weniger wiegt als eine halb gefrorene und sich so vielleicht ihr Geschmack verbessert, der Gewinn aber nicht, weil der gewissermaßen gleich mit ausgebacken wird –, meiner Unprofessionalität wegen sprudelten also Dutzende Euro und andere Schadstoffe im Fett, und da wurde ich unehrenhaft und mit einer letzten Lohntüte entlassen, reichte den Freunden ein Gläschen Grand Cru und meine vom Frittieren ganz weichen Hände, bevor sich Tanita vorstellte – Olbrich, Richmann, richtig, Hallo –, die in Hamburg wohnte, wo sie bei Angela Schanelec Film studierte.
Ich sog den letzten Saft in meinen Mund. »Du, der Du Stück für Stück mit Verstand hier hereinkommst, sage mir hinterher, ob so viele Wunder aus Täuschungsabsicht oder um der Kunst willen gemacht worden sind«, rezitierte Tanita eine der Inschriften, die wir draußen im Park gelesen hatten und die, wie ich fand, auch ihre Arbeit gut beschrieb. Auf mich wirkten die Filme, die ich von Tanita kannte, als behaupteten sie andauernd etwas Vertrautes, folgten dabei aber zugleich einer Logik, die nichts mit jener Wirklichkeit zu tun hatte, auf die sich täglich neu geeinigt wird; sie bestritten gewissermaßen jede Übereinkunft, ließen mich ratlos und bester Laune zurück. Ich dachte an jene auf dem verwaisten Olympiagelände von Athen gedrehten Szenen, die mir besonders gefielen. Diejenigen Ruinen, die unsere nahe Zukunft in direkten Bezug zu einer Vergangenheit setzten, von der Hollywood mehr wusste als ich – Akropolis, Schierlingsbecher und die zweiundvierzig Kilometer nach Marathon –, diese gerade noch fiktiven und doch bereits vorhandenen Ruinen, die immer auch daran erinnerten, dass Ärztinnen während der sogenannten Krise Spritzen desinfizierten, um sie ein zweites Mal zu verwenden, diese kommenden Ruinen also schienen in Tanitas Film andere zu sein, ohne dass die Art und Weise ihrer Abbildung mich dazu gebracht hätte, zu vergessen, dass dieser Ausdruck des Notstands griechischer Krankenhäuser zwar eine besonders einprägsame, wohl aber gelogene Erzählung war, oder zu akzeptieren, dass jede Bewegung des DAX virtuell blieb, infantil, ihre Auswirkungen hingegen real.
Sobald eine von Tanitas Figuren aufgefordert wurde, in Euro zu zahlen, tat sie es. Das Geld verfügte über die Summe aller Zusammenhänge, die ihm zugeschrieben wurden und die es gleichzeitig fortschrieb, während sich die Handlung in keinem Moment darauf einließ. Was mich irritierte, das verstand ich nun, war die Weigerung der Figuren, ihr Verhalten an die Wirklichkeit anzupassen; unheimlich schritten sie durch sie hindurch. Wovon genau der Film handeln sollte, wegen dem Tanita uns nach Bomarzo eingeladen hatte, war mir allerdings so unklar wie die eigene Rolle darin. In mein Kostüm – ein viel zu großes Pelle-Pelle-Hemd in Würfeloptik – versunken, dachte ich nach. Wäre sich meine Figur, falls sie überhaupt Wasser trank, darüber bewusst, dass San Pellegrino so viel Uran enthielt, dass Säuglinge davon Schluckauf bekamen? Würde ich deswegen nicht einen anderen Sprudel wählen, Santa Emilia vom Rasthof oder ein Birra Moretti aus Mais – und wenn ja, was würde das für den Film oder meine liebe Niere bedeuten, die bereits jetzt, im Rachen des Gottes der Unterwelt, verdächtig pochte.
Mir war, als könnte die Figur, die ich sein würde, plötzlich Blinddarm und Nieren bestimmen, Appendizitis von Insuffizienz unterscheiden und damit mehr wissen als ich, der ich doch gar nichts wusste, eine Missgunst, von der Tanita, die – abgesehen von einem Kopfschütteln beim Wort Logik – ruhig zugehört hatte, mir erklärte, in ihr, der Missgunst, verberge sich der zarte Samen des Faschismus, weder dürfe ich meiner Figur etwas neiden noch vor der Kamera zu spielen anfangen, das seien zwei Seiten einer sogenannten Medaille, sie wolle, sagte Tanita, dass ich die Dinge, die ich nun einmal tue, Würstchen braten zum Beispiel, Nachgucken, ob da eine Ameise in meinem Ärmel sei, Tschau sagen oder eben Sprudelwasser trinken, dass ich all das einfach so mache wie immer.
Am Abend dieses 2. August 2019 saß ich am Hotelpool und las im iPhone. Entlang des Beckenrands hatte ich heimlich Schauspielertricks wie das Geradeausgehen oder das Umarmen einer mir fremden Person geübt. Der Mond schien beinah so hell wie das Display, dachte ich ein bisschen poetisch, als mich die Schlagzeile Clemens Tönnies empört mit rassistischen Aussagen aufschreckte. Allein darüber bestürzt, dass man das Land keinen Tag lang verlassen konnte, ohne einem Deutschi aus der Ferne beim Durchdrehen zusehen zu müssen, begann ich die Lektüre, während der sich nicht bloß ein alter Verdacht bestätigte, ich glaubte auch zu verstehen, was Tanita im Orcus gemeint hatte. Tönnies’ O-Ton soll hier, wo es um Kunst und Täuschungsabsicht geht, keine Wiederholung finden, Pi mal Daumen lässt sich aber sagen: Deutscher Wohlstand ist steuerfreier CO2-Ausstoß plus die Sterilisierung durch Elektrifizierung Afrikas. Betreten schaltete ich das iPhone aus und spazierte vorbei am leeren Becken zur Schlucht, die unsere Bungalows von Bomarzo trennte.
Schwarz lag die Stadt auf dem Hügel. Doch über mir funkelten die Stars und die Sternchen, und da ahnte ich nicht zuletzt Clemens’ ostwestfälischer Diktion wegen, dass Tanita von mir erwartete, ein Tönnies zu werden, kein Schweine-Tönnies, der Leiharbeiterinnen aus Südosteuropa abzieht, kein sich über sein Geld wundernder Cum-Ex-Tönnies und auch kein Schalke-Tönnies, der in Adiletten durch Gelsen schlappt, sondern ein richtig echter Tönnies, der vom Tag des Handwerks nämlich, der zu spielen aufgehört hatte, dem in Paderborn nicht einfach etwas rausgerutscht war, wie eine Bockwurst aus einem Hotdog-Brötchen rutscht, weil es das gar nicht gibt, weil das die deutscheste aller deutschen Wendungen ist und Sprache keine pürierte Sau im Saitling.
Ich fuhr mit einem gläsernen Aufzug.
Ich hörte den Bungalowbesitzer sagen: »Der Kardinal trägt rot, Giulia Farnese trägt weiß.«
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