Philosophiekolumne
Glauben und Wissen von Gunnar HindrichsI
Seit etwa einem Vierteljahrhundert hat sich das Verhältnis der liberalen Gesellschaften zum religiösen Glauben verändert. Eine neue Variante dessen macht sich geltend, was Richard Rorty einen »Posty« nannte:1 Nach der »posthistorischen«, der »postindustriellen«, der »postmaterialistischen«, der »postmodernen«, der »postdemokratischen«, der »postnationalen« und der »postpolitischen« Gesellschaft ist die »postsäkulare« Gesellschaft ans Licht getreten. »Postsäkular« besagt: Die Herrschaft der säkularen Wissenschaft, des säkularen Rechts, der säkularen Kunst hat ihre Zeit gehabt.2 Sie ist nun abgelaufen, um einer Rückkehr des Glaubens – oder zumindest der Religion – Platz zu machen.
Gewiss war der Glaube niemals verschwunden. Vermutlich besaß er im 20. Jahrhundert in Europa eine größere Verbreitung als heute. Aber er bildete das Medium eines Denkens, das für den Hauptstrom der wissenschaftlichen Arbeit, der staatlichen Organisation oder der künstlerischen Schöpfung nicht maßgeblich war, so sehr es auch an ihnen teilhatte; ein Medium, das Legitimität im Privaten, in gesellschaftlichen Eigensphären, als Schmuck andersartiger Überlegungen besaß, insgesamt aber sich einer Rationalität beugte, deren Grund mit dem Glauben nichts verband. Hier war das Säkulare bestimmend, und die Formen des Glaubens hatten mit ihm zurechtzukommen. Zu unserer Zeit hingegen schwankt der säkulare Bestimmungsgrund. Entsprechend scheint nun das Säkulare mit dem Glauben zurechtkommen zu müssen, und der Anspruch des Glaubens findet auch bei denen Gehör, die sich selber als Kinder der Säkularisierung begreifen.
Von ihnen werden die Fragen einer religiösen Orientierung des politischen Handelns, methodischen Forschens oder alltäglichen Lebens mit Begierde aufgegriffen. Oft geht das mit dem Bedürfnis nach neuen alten Bindungen einher. Die säkulare Gesellschaft und ihr Staat, die säkulare Wissenschaft und ihre Verfahren, die säkulare Lebensführung und ihre Wertvorstellungen scheinen zu wenig zu bieten, um ein gelingendes Dasein zu ermöglichen. Daher sollen ihnen der religiöse Glaube und seine Rituale eine neue Substanz liefern – eine Substanz, die gediegener ist als die Leistungen, die dem Glauben im Säkularen verblieben waren. Vor allem lässt sich die erhoffte Substanz nicht mehr auf »Kontingenzbewältigung« reduzieren.3 Statt die Kontingenz, die im Gefüge komplexer Gesellschaften für die überforderten Einzelnen notwendig herrscht, mit seinen Angeboten zu bewältigen, stellt der Glaube alles unter eine Wahrheit, die sich von diesem Gefüge her gar nicht mehr bestimmen lässt. So entledigt sich der Glaube seiner säkularen Funktionen. Ein Zeitalter, das diesen Sachverhalt auf sich nimmt, wird postsäkular.
Allerdings bedeutet »postsäkular« auch, dass vor die Epoche der Säkularisierung nicht zurückgegangen werden kann. Man denkt, handelt, erfährt nach ihr. Darum bleibt die säkulare Rationalität der Ausgangspunkt der postsäkularen Zeit. Das hat Folgen. Denn jene Rationalität hatte den Glauben in Sondersphären gedrängt, deren Orte von der säkularen Ordnung bestimmt wurden. Wenn der Glaube in dieser Ordnung nicht mehr fungiert, dann prallt er mit der säkularen Rationalität zusammen. Er ist ihr ein Ärgernis und eine Torheit. Dieser Zusammenprall bleibt der Ausgangspunkt eines Denkens, das nach der Säkularität zu kommen beansprucht. Vom postsäkularen Zeitalter zu sprechen bedeutet daher nicht, eine Entspannung im Verhältnis von Glauben und Wissen auszurufen. (Ihre Entspannung wusste der säkulare Funktionalismus viel besser zu gestalten.) Vielmehr bedeutet es, gerade unter der Prämisse des Konflikts zwischen Rationalität und Glauben den Glauben zur Geltung zu bringen. Postsäkularität ist der Zustand einer Unwucht.
II
Jürgen Habermas hat in seinen Werken immer ein großes Gespür für die Situation der Zeit bewiesen. Fünfzehn Jahre nach dem deutschen Faschismus artikulierte der Strukturwandel der Öffentlichkeit jene Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, deren Bedeutung für ein freiheitliches Zusammenleben nach dessen Zerstörung offenkundig geworden war. Ende der Sechziger formulierte Erkenntnis und Interesse die Wissenschaftstheorie der neuen Intelligenz, die das analytische und das hermeneutische Denken mit Gesellschaftskritik krönte. Anfang der Achtziger entfaltete die Theorie des kommunikativen Handelns den Gegensatz zwischen der instrumentellen Rationalität des Systems und der kommunikativen Vernunft der Lebenswelt und deutete damit die postmaterialistische Selbstbestimmung, in die die Bewegungen der Siebziger gemündet waren, als den Widerstand gegen die Kolonialisierung der Lebenswelt durch das System von Staat und Ökonomie. Kurz nach dem Sieg über die sozialistischen Staaten schließlich begründete Faktizität und Geltung die jetzt konkurrenzlosen Institutionen des demokratischen Rechtsstaats als Verkörperungen des Verständigungshandelns, deren angemessene Entsprechung in der Zivilgesellschaft besteht.
In unseren Tagen hat Habermas nun sein monumentales Alterswerk vorgelegt. Wie die Theorie des kommunikativen Handelns ist es zweibändig und über siebzehnhundert Seiten stark. Mit ihm legt Habermas nichts Geringeres vor als eine Geschichte der Philosophie. Allerdings setzt er, in Anspielung an Herder, ein »auch« vor den Anspruch: Auch eine Geschichte der Philosophie. Die Einschränkung passt. Denn inhaltlich konzentriert sich das Buch auf »Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen« sowie auf »Spuren des Diskurses« über sie.4
Der weite Ausgriff auf die Philosophiegeschichte kann daher nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier abermals eine Deutung der Gegenwart vorliegt. Erst im postsäkularen Zeitalter, das Habermas bereits 2001 in seiner Friedenspreisrede starkgemacht hatte, konnte die Theorie des kommunikativen Handelns in eine Philosophiegeschichte übergehen, die das Verhältnis von Glauben und Wissen zu ihrem Schlüssel hat. Der Bogen, den sie schlägt, ist gewaltig. Er reicht vom Denken der Achsenzeit über – unter anderem – Jesus, das Urchristentum, Plotin, Augustin, die römisch-katholische Kirche, die Aristoteles-Rezeption im 13. Jahrhundert, Thomas von Aquin, Duns Scotus, Wilhelm von Ockham, Machiavelli, de Vitoria, Luther, Hume, Kant, Herder, Schleiermacher, Hegel, Feuerbach, Marx, Kierkegaard und Pierce bis in die gegenwärtigen Debatten. Eine kritische Prüfung all dieser Einlassungen wäre sinnlos. Sinnvoll kann nur die Reflexion auf den roten Faden sein, den Habermas spinnt und der die philosophische Bedeutung seines Alterswerks ausmacht. Er lautet auf die Genealogie des nachmetaphysischen Denkens.
Das Konzept eines nachmetaphysischen Denkens brachte Habermas bereits in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in die Diskussion. Damals rezensierte er eine Anzahl ungleicher Neuerscheinungen, in denen er eine Rückkehr zur Metaphysik erblickte.5 Mit dieser Rückkehr war nicht so sehr das metaphysische Geschäft der zumeist analytischen Schulphilosophie gemeint. Vielmehr zählten als metaphysisch solche Unternehmungen, die dem Kontingenten und Relativen nicht das letzte Wort lassen wollten. Sie griffen auf etwas Substantielles oder Abschließendes aus, um es als Schlüssel zum Verständnis unserer Zeit geltend zu machen. Einen solchen Ausgriff verbuchte Habermas als philosophische Regression in die Vormoderne. Modern sei die Verflüssigung der Substanz, die Offenheit des Diskurses, nicht der Bezug auf ein Erstes oder Letztes.
Dagegen erhob einer der Rezensierten Einspruch. Unter Bezug auf Max Weber suchte Dieter Henrich zu zeigen, dass in der Moderne ein eigener Zug zur Metaphysik angelegt sei.6 Max Weber hatte durch eine Reflexion auf die Voraussetzungen der Wissenschaft versucht, zur Klärung der letzten sinnstiftenden, einander aber notwendig widerstreitenden Konzepte zu gelangen, die ein Leben anleiten können. Henrich deutete diese Konzepte als metaphysische Abschlussgedanken, die unter der Anerkennung unauflösbarer Konflikte – und also »modern« – dem bewussten Leben als letzte Fixpunkte die Fluchtlinien ziehen.
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